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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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aus Eiern entwickeln. Aus Würmern, hat Aristoteles gesagt, die von selbst in fauliger Erde entstehen. Und zweitausend Jahre lang hat alle Welt daran geglaubt.
    Nichtwahr, sagte er. Im Grunde muß man ständig davon ausgehen, daß das, woran alle Welt glaubt, sich in einer Zukunft als falsch herausstellen wird. Die Wirklichkeit heute hat genauso ihre Halbwertzeit wie jene von damals. Und jeder, der irgendwann die Welt beschreibt, ist zuvor von der Welt beschrieben worden.
    Barbara saß da. Das Silberbesteck bereits in Reihe auf dem Porzellan, dazwischen die Karkasse.
    Sie sah ihn an. Glaubst du an uns?
    Ja.
    Woran man heute glaubt, kann sich schon morgen als falsch herausstellen.
    Aber doch nicht du.
    Bist du sicher? Kennst du alle Hintergründe, weißt du genügend über die Anfangsbedingungen?
    Sie rauchte, während er noch kaute.
    Zum Nachtisch entschieden sich beide für Birne Helene.
    Die Flasche im Weinkühler war noch halbvoll. Ein 65 er Weißburgunder, Auslese, blank im Glas, der Körper kräftig, mit Nuancen von Limette und einer ausgeprägten Mineralität – Schiefer, meinten sie, und uralte Lava.
    Willem nahm ihre Hand und war sicher, daß diese Frau niemals mit seiner Mutter unter einer Decke steckte.
    Nach dem Essen bummelten sie durch die nächtliche Stadt. Sie nahmen eine schmale Straße mit Packhäusern, den Marktplatz, und als eine Straßenbahn vorbeizog, stieß blaues Licht gegen das Rathaus. Unter den Arkaden roch es nach Tauben, und manchmal schlugen Flügel auf. Sie blieben hinter einer Säule und küßten sich. Doch ihre Zungen schienen kühl, als wäre jeder mit den Gedanken woanders.
    Die Passagen waren ausgeleuchtet, die Schaufenster hell. Sie sahen den Totalausverkauf des Hutmachers und nebenan den Preisnachlaß bei Füllfedern und Feuerzeugen. Zwei, drei neue Warenhäuser hatten ganze Straßenblöcke eingenommen, und die Dekorationen brachen verborgene Wünsche auf, verwandelten flüchtige Erscheinungen in eine bodenständige Größe ohne ersichtliche Halbwertzeit. Die Gliederpuppen trugen die polymeren Neuschöpfungen einer mächtigen Industrie, karierte Sakkos oder Blusen mit opiumtiefen Farbstrudeln; sie trugen die stabilen Klassiker mit Edelweiß und Hirschhorn, doch zuletzt war es egal: Die schwindelerregende Konkurrenz aus Fernost war allgegenwärtig, und vor allem Barbara meinte ein schlitzäugiges Grinsen aus den Schaufenstern wahrzunehmen. Oder noch besser, eine von fremdartigem Geist durchwirkte Gelassenheit, für die billiger Schwall am Ende aufs gleiche hinauslief wie der Nachweis einer uralten Maulbeerlinie.
    So zogen sie auf den Bahnen der Schaufensterbummler. Arm in Arm, und diese Art der Bummelei hatte längst jeden nichtsnutzigen oder studentischen Anruch verloren und signalisierte im Gegenteil noch Potenz und Kaufkraft in Zeiten aufkommender Ölknappheit. Und tatsächlich konnten sie wie Stammhalter dieses neu gerüsteten Volkskörpers erscheinen – eine propere und fruchtbare Generation nach der Stunde Null, und so bummelten sie und küßten sich öffentlich.
    Doch in Wirklichkeit blieben ihre Zungen auch in den Passagen kühl.
    Willem ahnte, wie noch die Vorwürfe in seiner Mundhöhle hafteten und alle Hitze und Geschmeidigkeit unterdrückten. Und einmal, als sie vor den Auslagen eines Juweliers stehenblieben und das Glitzern von Doppelpyramide und Hexakisoktaeder sich in Barbaras Augen verfing, spürte er eine Erregung seiner Nerven, einen plötzlichen Drang, seine Zunge von der Last zu befreien. Doch anstatt sich bei ihr zu entschuldigen, berührte er ihr Fleisch und verwandelte bald alle Absicht zu sprechen.
    Barbara seufzte wohl, und im roten Licht der Samtauslage ahnte er ihre Hingabe. Doch die seltsam niedrige Temperatur ihrer Zungen blieb – und schlimmer für Willem: Er meinte wieder den nekrotischen Geschmack der Alten wahrzunehmen.
    Im Grunde war es ein Anblick aus einer Welt, lange bevor es Menschen gegeben hatte. Ein zeitloses Fragment in ewig neuem Bernstein, das womöglich von Anfang an einfach nur dagewesen war; grenzenlos und leer, gelassen und unbeteiligt und jenseits von Sinn und Verklärung irgendeines Betrachters.
    So saßen sie unter einer Eiche, und hinter dem Geäst stand der Mond.
    Barbara fand den Anblick romantisch. Sie hatte die Beine auf die Bank gezogen und lehnte an Willems Seite.
    Willem sagte, daß

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