Kronhardt
Familienbilder. Barbara als Säugling, Barbaras erste Gehversuche, Barbara im Vorschulalter. Strahlend, bockig, das Gesicht eingefangen in kindlichem Ernst.
Willem fand es erstaunlich, daà er die Ansätze für die weiteren Ausprägungen dieser Frau bereits erkennen konnte â quasi die festgelegten Merkmale, meinte er und überlegte zugleich, wie festgelegt diese Merkmale wohl wären. Ob es einen Schwankungsbereich gebe, der sich den unmittelbaren Umständen anpasse.
Barbara war nicht sicher, ob es so einen Schwankungsbereich überhaupt gab. Sie sei glücklich aufgewachsen, meinte sie, und wäre es weniger glücklich gewesen, sähe sie heute bestimmt nicht anders aus. Willem strich ihr über das Gesicht; die zu Schönheit gereiften Ansätze von den Photos.
Auf den nächsten Bildern sah er zum erstenmal ihre Eltern. Beide waren schon damals nicht mehr die Jüngsten, dazu kamen Hitlerfaschismus und Krieg. Ihre Eltern, sagte Barbara, hätten beides verweigert, ein innerer Widerstand, der Kraft gekostet habe. Und sie seien überzeugt gewesen, keine Kinder in jene Zeit setzen zu wollen.
Mit anderen Umständen im Gepäck würden deine Eltern auf den Photos vielleicht anders aussehen. Und du wärst zehn Jahre älter. Oder gar nicht erst geboren.
So saÃen sie und dachten an die endlose Fülle von Begleitumständen, die zu der eigenen Geburt geführt hatten; dazu, daà sie sich begegnet waren und nun gemeinsam hier saÃen.
Auf den nächsten Photos war Barbara mit ihrer ersten Puppenküche zu sehen. Barbaras erster Schultag, ihr erstes Fahrrad, und dann einige Bilder, mitten aus einer Menge aufgenommen; der ganze Marktplatz voll mit Menschen, und einige klammerten sich noch an den Roland. Und mittendrin in dieser Menge die kleine Barbara. Wie sie vor Ludwig Erhard einen Knicks machte, wie dieser fleischige Riese ihr Köpfchen streichelte. Und dann Barbaras Eltern, denen der Minister die Hand drückte.
Was ist das, sagte Willem.
Man nahm unsere Familie als Vorbild für die gelungene Umsetzung der sozialen Marktwirtschaft. Wir kamen sogar in die Wochenschau.
Und Barbara legte ein paar Bilder nach, die recht professionell wirkten. Der Vater vor einem Schlagbaum und dahinter Italien; der Vater vor einer alten Weberei, beim Begutachten von Stoffen und dann neben dem Patriarchen, einem bussardäugigen Alten, der vor seinem Webstuhl auf Anhieb wie ein groÃer Meister erschien.
Dann Bilder von der Mutter; wie sie in den kolonnadenhaften Gängen die Futterale aus den Fächern zog, wie sie mit Meterholz und Schere nach den Wünschen einer anspruchsvoll gekleideten Dame arbeitete und zuletzt den Stoff an einer dunkelholzigen Schneiderpuppe drapierte. Des weiteren die Familie unterm Weihnachtsbaum, bei Tisch, mit Opel und Zelt am Gardasee.
Nach einer Zeit sagte Willem: Ãber unsere Familie gabs auch eine Serie.
Ach.
Der Tod meines Vaters.
Wie?
Mysteriös, stand in den Zeitungen, und: Gerichtsmedizin steht vor einem Rätsel. Aber dann hat sich das Ganze aufgelöst, und es gab so etwas wie eine Entschuldigung dafür, daà meine Mutter und Kronhardt öffentlich unter Verdacht geraten waren. Gute Werbung war das natürlich nicht.
Sie standen unter Mordverdacht?
Soweit ich weiÃ.
Schrecklich.
Keine Ahnung. Sie reden nicht darüber.
Aber sie sind rehabilitiert?
Sieht so aus.
Und du?
Ich war dabei, als er starb. Die Barkasse hieà Alk, und wir machten eine groÃe Hafenrundfahrt. Im Totenschein steht Embolie. Und das wirds wohl gewesen sein.
Wie kann jemand an einer Embolie sterben und später entstehen daraus Mordgeschichten?
Na ja. Einem der Pathologen war wohl was aufgefallen, und anscheinend hätte auch ein Anschlag den Tod verursachen können.
Ein Anschlag?
Verdammt heimtückisch und sachkundig zugleich. Das meinte jedenfalls der zweite Pathologe, ein junger Hund, der Lampe hieÃ, und als er mit seiner Meinung alleine blieb, schaltete er auf eigene Faust die Kripo ein. Für ein paar Wochen wucherte seine Hypothese in den Zeitungen, bevor ein anonymer Arztkollege alle Unklarheiten beseitigte.
Anonymer Arztkollege?
Aus Loyalität gegenüber seinem Stand, nehme ich an. Jedenfalls machte dieser Arzt auf eine englische Fachzeitschrift aufmerksam, worin über zwei ganz ähnliche Fälle berichtet wurde, die aber zuletzt auf natürliche Ursachen zurückgeführt werden konnten. Damit
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