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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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und wohltuend, und sie war ihm wie aus einer anderen Welt erschienen. Ein zeitloses und wunderbares Bild einer Mutter. Doch jetzt auf dem Bett konnte er sehen, daß nichts aus ihrem Leben eine Spur dieses Urbildes hinterlassen hatte. Arme Mutter, und er kam zu ihr hinab und berührte den bereits erkalteten Körper.

II
Ramow&Ramow

1
    Kolchis und Iberien; ein Reich, das von der Weltgeschichte immer wieder zerstückelt wurde. Alexander, Rom oder Persien. Araber, Mongolen und Osmanen; und später dann die Russen, die es zuletzt zur Grusinischen SSR gemacht haben. Ein Reich wie das Fettauge in der Wasserschüssel, und nach all den Zerstückelungen ist es immer wieder zusammengekommen. Auf seltsame Art autonom und lebendig geblieben durch die Jahrtausende der Weltgeschichte, und als der sowjetische Riese ins Straucheln kam, gehörte diese transkaukasische Republik zu den ersten, die ihre Unabhängigkeit ausriefen.
    Willem liegt auf dem Sofa und hält das Magazin in den Händen. Georgien also, und er freut sich, wie die Zusammenhänge aus der Geschichte neue Blickwinkel erschaffen können.
    Die Sensation des Artikels liegt jedoch jenseits irgendeiner Weltpolitik und scheint mühelos die Grenzen menschlicher Erfahrung zu übersteigen. Willem liest, daß es den Georgischen Schädel gar nicht geben dürfte und daß alle Untersuchungen offenlegten, wie dieses frühmenschliche Fundstück noch das Grundgefüge wissenschaftlicher Weltordnung aufweiche. So liegt er auf dem Sofa, und als das Telefon anspringt, scheint die Zeit aufzureißen. Siebenmal, achtmal, und jeder Ton treibt den Riß, spült eine Realität nach innen, die zuletzt alle Versenkung aufsteigen läßt.
    Hallo.
    Ich wußte es.
    Was?
    Daß du in deinen Büchern versackst.
    Ich bin fast fertig.
    Womit?
    Du hast recht. Ich bin versackt.
    Die Party fängt bald an. Inéz und Hector sind schon hier.
    Ich komme.
    Ich lege dir frische Sachen raus.
    Nicht nötig.
    Ach Willem. Immer deine Kluft.
    Ach Barbara. Und dann: Küßchen.
    Bummel nicht.
    Er legt Mozart auf; vorm Spiegel nimmt er die Brille ab, reibt die Tränensäcke und sieht zu, wie die Flüssigkeit sich wieder sammelt. Kolchis und Iberien, meint er, und dann nimmt er die Seife und bringt den Kopf ins Waschbecken. Kümmert sich um Fingernägel und Zähne, zieht Grimassen und betrachtet die Falten. Dann kämmt er das Haar nach hinten, kaschiert die Platte und freut sich darüber. Die Koteletten sind noch buschig, und beim Einsatz der Klarinette fährt er sich über die Stoppeln. Er sieht auf die Uhr und entscheidet sich gegen eine Rasur; die Zeiten haben sich geändert, meint er. Verstoppelt auf einer Party schockt heutzutage niemanden mehr, und die Systemverweigerungen von damals tauchen in Zyklen wieder auf; weichgespült für den Markt und in allen Spielarten. Für die Sache kämpfen wird heutzutage an den Börsen transformiert, und legal-illegal-scheißegal ringsherum.
    Er dreht die Klarinette ein bißchen lauter und zieht seine Kluft an. Nichts Dramatisches, eine Tweed-Cord-Kombination aus Originalzeiten.
    Der Kaktus von Hector Luna hat ausgetrieben, und seine Arme stehen gegen die Dämmerung. Willem schenkt einen Whisky ein, während das Orchester die Klarinette aufnimmt; dann geht er ans Teleskop, kriegt Venus rein und dann einen Bengel, der vorm Roland steht. Er fokussiert ambulante Straßenmusiker und zuckelnde Tauben. Und mitten im Kalten Krieg haben die Russen den Schädel ausgebuddelt. Haben ihn vermessen, datiert und zugeordnet, und das Ergebnis paßte von Anfang an nicht in das anerkannte Bild der Menschheitsentwicklung. Das nächste Mal gingen sie mit neuer Technik ran. Dann mit neuen Leuten, und stets wurden die ersten Ergebnisse von neuem bestätigt. Der Georgier gehört zu einem Erectus, einem Frühmenschen in einer Linie mit dem Sapiens, der Afrika frühestens vor einer Million Jahren verließ. An seiner Art gibt es keinen Zweifel; sein Schädel ist so gut erhalten, daß er wie ein Leitgestirn für die Merkmalsausprägungen der ganzen Erectus-Art erscheint. Auch am Alter ließ sich nicht deuteln; die C-14-Methode hatte 1,75 Millionen herausgebracht, und auch mit Radionukleiden und Isotopen kamen die Russen auf eindreiviertel Millionen. Der Erectus-Schädel war also 750   000 Jahre zu früh in Georgien aufgetaucht, und die Russen konnten sich das nicht

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