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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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raucht, wie die Angst aus der japanischen Tektonik drängt und die unglaubliche Magnitude alle Geister erfaßt. Es scheint ein Augenblick im Schock, als wäre der Geist gelöst aus aller Verkrampfung und könnte die eigene Mißweisung sehen; als wäre er bereit, Betrug und Verbrechen aufzugeben und den Quellpunkt der Welt wieder demütig in den stillen Raum zu legen. So sitzen sie in der Restaurant-Bar; Zeitzeugen wie einst Voltaire, und vor ihren Augen zerschmilzt ein Atomkraftwerk.
    Sie essen langsam, so daß die Schöpfungen der Küchenmeisterin sich voll entfalten. Noch die Chilis, leuchtendschwarz oder rotgescheckt, bringen immer neue Feuerarten hervor, und dazu erzählt Hector Luna aus seiner Heimat. Kleine Geschichten von sprechenden Kojoten aus den Kakteenwäldern Sinaloas; von weißen Raben, die im ewig wandelnden Licht über die Sierras ziehen oder von Schlangen aus den Urwäldern Yucatáns, die durch einen Cenote abwärts gleiten, die Unterwelten durchschwimmen und sich zuletzt in einer Tropfsteinkathedrale für immer zusammenrollen. Kleine Geschichten, die Zeit und Raum auflösen, und so zerlassen sie Zicklein und Kürbis auf ihrer Zunge, ziehen mit den Maisfladen dunkle Mole vom Teller – ein archaischer Sud, wie Hector Luna sagt, als würde das Herz des Landes zerkocht, als würde die mexikanische Seele aufwallen.
    Nach dem Essen nehmen sie einen Brandy.
    Rings die Demut bleibt nur ein Aufblitzen aus dem Schock. Die Kollision der Kontinentalplatten, die Welle und aufgerissene Lithosphäre erscheinen bereits verschwindend, und noch die stündlich höher schlagende Magnitude zu Toten und Verschollenen wird nebensächlich. Und bald läßt der dahinschmelzende Reaktor keinen Raum mehr für nichts, Demut und Schock kann sich die Menschheit nicht leisten, und mit den Bildern halten moderne Wörter wie Abklingbecken oder Kernschmelze die Welt gepackt. Und einen erschreckenden Augenblick lang markiert das Wort Havarie das Gefühl kollektiven Untergangs, und so steht auch der japanische Regierungssprecher im Maschinenraumanzug und spricht zu der Welt.
    Nach dem Brandy ziehen sie Mangostücke aus heißer Schokolade, und derweil treten andere Männer vor die Welt und stellen sich mit wunderbarer Vernunft gegen die Havarie. Sie verkünden, daß die Ordnung der Dinge wiederhergestellt wird. Daß nichts außer Kontrolle geraten wird, weil überall Kontrolle impliziert ist; bis hinein in den ewigen Zustand menschlicher Überlegenheit, verkünden die Männer.
    So sitzen sie in der Nische, löffeln Früchte aus der dunklen Schokolade und sprechen über Relativität und Langzeitwirkung menschlicher Überlegenheit.
    Der Alltag ist nach vorn ausgerichtet; vorwärts, und so sind die deutschen Seehäfen bald gerüstet mit Meßinstrumenten für die einlaufenden Dampfer aus Fernost, und auch erste Hochrechnungen zur Ausbreitung der atomaren Verschmutzung durch den Seeverkehr liegen vor. Spezialinstitute durchleuchten die Angeschlagenheit der japanischen Industrie, Engpässe werden vorausgesehen, die Kaufkraft umgeleitet, und in der Republik scheinen die Werte zu halten.
    Willem hat nichts anderes erwartet, und auch er sitzt im Alltag. Atmet, trinkt, ißt, und wenn die Sonne zum Mittag einfällt, steht Jawlenskys Landschaft im scharfen Frühlingslicht, und der Kaktus strahlt. Meist geht er zeitig in diesen Tagen, nimmt ein Taxi zur Landesgrenze und marschiert einwärts. Sieht aufgebrochene Kätzchen und erste Bienen, und im Auwald springt er bedächtig von Wurzel zu Wurzel, später inspiziert er die Eisvogelhöhle.
    Manchmal bleibt er über Feierabend aber auch im Spitzgiebel und liest auf dem Sofa, bis Barbara mit dem Zündschlüssel erscheint. Einmal schaut Katja Bloch nach dem Mittag vorbei, und sie sitzen vor der verglasten Tür. Sehen die Stadt hinter Manilahanf und Blöcken, und Katja erinnert sich an Tschernobyl. Wie ihre Tochter Jodtabletten nehmen mußte und wie Honecker Tschernobyl in einen Glücksfall verwandelte, um der Welt endgültig zu demonstrieren, daß ein GAU in der kühlen Überlegenheit der Sowjetvölker nicht existierte.
    Auch Kronhardt reagiert mit einer Art Stolz auf den japanischen Kollaps; er sieht darin einen Gradmesser für die Tauglichkeit sowohl des einzelnen wie des ganzen Volks, und im Speicherhaus läßt er keinen Zweifel daran, daß

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