Kronhardt
einen Trichter ins Ohr und leuchtete hinein. Willst du ein Attest?
Nein.
Wie heiÃt diese Lehrerin?
Von Weyer.
Der Doktor kritzelte. Und sie macht dir Schwierigkeiten?
Sie duldet keine Widerworte. Egal, ob man recht hat.
Du bist ein guter Schüler, nehm ich an.
Sonst würde die Mutter mir noch mehr Zeit streichen.
Hast du einen Lieblingslehrer?
Den haben sie geschaÃt.
Freunde?
Den Hans. Doch die Mutter behauptet, die Familie ist asozial, und sie will, daà der Dicke mein Freund ist.
Dieser Cola-Junge?
Ja.
Wenns übler wird mit der Mutter oder der von Weyer, kommst du wieder vorbei.
Willem strahlte.
Kannst du dich zurückziehen?
Ich habe mein Zimmer. Da lassen sie mich meistens in Ruhe.
Eine Nische für sich zu haben ist gut.
Ja.
Blask kniff die Augen zusammen. Dein Vater. War der nicht auch so ein Nischenmensch?
Glaub schon.
Er war anders, nichtwahr.
Ja.
Auf einer Hafenrundfahrt gestorben. Und du warst dabei.
Ja.
Die Todesumstände waren damals umstritten.
Kann sein.
Hat deine Mutter mit dir darüber gesprochen?
Nein.
Hat sie verboten, darüber zu sprechen?
Ja.
Der Tod des Richard Kronhardt. Die Zeitungen waren voll davon.
Willem sah zu Boden.
Künstler, stand in den Zeitungen. Was hat denn dein Vater gemacht?
Seine Photos. Bilder von den Alltagsmenschen, sagte er dazu. Aber eigentlich machte er immer das, was er gerade wollte.
Aha.
Wir waren viel zusammen. Sind am Fluà spaziert oder durch die Stadt, und wir konnten den Alltag auflösen.
Aha.
Mein Vater hat immer das hinterfragt, was für die anderen ganz normal war. Ihre Gewohnheiten und ihre Art, alles so hinzunehmen, wie es ist. Und während die anderen Kotelett kauften, ging mein Vater in den Schlachthof und photographierte das Gemetzel dort. Und während die anderen auf Toilette gingen, stieg er in die Kanalisation. Einmal hat er mich mitgenommen, und seine Freunde und er hatten da unten eine richtige Welt aufgebaut. Mit Lichtern und Buden und Glücksrädern. Und Liliputaner mit Melone liefen herum und priesen ihre Ware an; sie verkauften Menschen â Politiker, Industrielle, und sie warfen bündelweise Geld in die stinkenden Kanäle.
Blask grinste. Mochte dein Vater die Menschen nicht?
Er hat viel über sie gelacht. Auch mit seinen Freunden hat er immer gelacht.
Und die Nazis?
Vor denen ist er in die Schweiz getürmt.
Und deine Mutter?
Die ist mit ihm.
Mochte er deine Mutter?
Sie hat ihn oft angeschrien.
Sie wollte wohl nicht, daà er dich in seine Unterwelten mitnahm, was.
Das wars wohl.
Du warst lieber mit ihm zusammen als mit der Mutter.
Viel lieber. Mit ihr ist alles so eng. Noch das Lachen oder die Träume.
Und dein Stiefvater?
Der sieht alles, wie sie es will.
Mochte er deinen Vater?
Ach was. Die hacken beide auf ihm rum.
Tja. Wenn dein Vater noch lebte, wärst du womöglich nicht hier.
Sie meinen, mein Vater hätte mich aufgeklärt? Und er hätte dem Fräulein von Weyer verboten, mir die Ohren langzuziehen? Und er hätte sich für den Erdkundelehrer eingesetzt und auch für Marduk?
Das weiÃt du besser als ich.
Ja. Und wenn mein Vater noch lebte, hätte ich auch mehr Zeit für mich. Mindestens so viel, wie die anderen haben.
Blask lachte.
Warum lachen Sie?
Mit den Menschen und ihrer selbstbestimmten Zeit ist das so eine Sache.
Aber das will doch jeder. Zeit für sich.
Im Gegenteil, Junge. Sie haben Angst davor. Angst, weil sie sich da selber begegnen, und wenn sie von Freizeit reden, meinen sie immer Zerstreuung. Ablenkung von sich selber, und bevor sie es riskieren, sich unausweichlich in ihren tiefen Gründen gegenüberzustehen, gehen sie lieber in den Krieg. Und wenn kein Krieg ist, helfen ihnen Chrompaste und Asbach und Telefunken. Und natürlich Knocken.
Willem sah den Doktor lachen, sah seine vorstehenden Zähne und die gebogene Nase.
Ach was! sagte Blask dann. In Wirklichkeit glaube ich an die menschliche Rasse. Ich glaube an das Wirtschaftswunder, ich glaube an Deutschland. Und sechs Millionen Juden.
Sechs?
Hat man dir nichts davon erzählt?
Manche sagen, das wäre gelogen.
Eichmann wuÃte es besser. Alle wissen es besser.
Warum lügen sie dann?
Angst vor sich selber, wie gesagt. Nazideutschland ist ein sehr aufschluÃreiches Kapitel menschlicher Geschichte, und diese Geschichte ist längst nicht vorbei. Um sie zu verstehen, kann man die Schuld nicht bei anderen suchen. Jeder
Weitere Kostenlose Bücher