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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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wirklich frei zu sein. Doch jetzt mußte er einsehen, daß der Verlust von Selbstbestimmtheit eine alles erfassende Wunde war. Und daß diese Frau mit Muttermaske endlos fortfahren würde, ihm mit ihrem grausamen Lächeln Stücke aus seiner Seele zu reißen. Und während alle Welt in diesem Akt einzig die Güte einer Mutter erkennen konnte, spürte Willem, wie diese Güte ihn aufweichte. Wie sich eine Art Stumpfheit in ihm ausbreitete, wie er einfach nur noch geschehen ließ und in Vernunft und Nachäfferei der Leysieffer-Schwestern versank. Allen Ekel ersäufte er in sinnlosem Geschwätz, und schlimmer, er entdeckte Weite und neuen Raum darin, war bereit, mit den Schwestern zu tuscheln und zu lästern, und an der Kaffeetafel spreizte er ein Fingerchen. Bald stellte er seine eigene Definition von Engstirnigkeit in Frage, und wenn er einen Blick auf ihre mickrigen Brüste erhaschte, kam er sich dabei vor wie ein alter Genießer.
    So versickerte in ihm die Kraft zum Widerstand. Und auch die Visionen versickerten in ihm, und dort, wo nur er selber in sich steckte und wo niemand etwas von ihm wußte, offenbarte sich mit dem Verlust sinnloser Raum. Und er füllte diese Leere mit Meißner Porzellan und Plauderei, er gab sich erwachsen, und jenseits dieser Welt gab es nichts zu hinterfragen.
    Bald fiel ihm auf, wenn die Schwestern neue Kleider trugen, und er machte ihnen Komplimente. Ihm gefielen die hohe und steife Geschlossenheit, aber auch die eingearbeiteten Spitzen und der Taft, durch die das Fleisch hindurchschimmerte. Die Schwestern erzählten von ihrem Schneider, sie mokierten sich über Minirock und berauschende Farbstrudel, und beim nächsten Mal hatten sie dann ein, zwei Knöpfe geöffnet, und sobald sie Willem Torte auftaten oder Kaffee nachschenkten, beugten sie sich extra tief.
    Bald genoß er ihre Blicke und ließ sich von den Schwestern für sein Wissen bewundern; für seine Rationalität und die zum Schluß immer einleuchtende Strenge seiner Beweisführung, der sie sich ganz selbstverständlich unterordneten. Bald gefiel ihm die Vorstellung, wie sie vor dem Spiegel standen und die vertrockneten, schmalen Lippen nur für ihn färbten; wie sie ihre dürren Hälse mit Puderduft bestäubten, und er entdeckte den Faktor drei und vervielfältigte all die mickrigen Merkmale. Und eines Nachmittags dann – draußen war es bereits dunkel, und die Schwestern hatten die Tafel vorweihnachtlich drapiert – spürte er die Erektion. Sein Fleisch drängte gegen die Brüsseler Spitze, und es war wie ein Schlag. Seine Augen traten vor, die Schwestern klopften ihm den Rücken, und dann kam es mit aller Wucht. Hinweg über die ganze Tafel, und noch das Arrangement der Kerzen erlosch unter dem Erbrochenen.
    Er fuhr direkt zu Blask. Der Doktor diagnostizierte Ekel im existentiellen Sinne, schlug aber in Anbetracht der Umstände vor, daraus einen Virusinfekt mit Brechmagen zu machen. Er verordnete harmlose Tropfen und ausgedehnte Spaziergänge an der frischen Luft. Zur Untermauerung verbot er Kaffee und Kuchenspeisen und schrieb Willem für den Rest der Woche krank.
    Grundlegend geändert, sagte Blask zum Abschied, hätten sich die Zeiten nicht. Die Systeme bauten weiterhin darauf, den einzelnen zu erfassen und einzuordnen, und Willems Reaktion darauf nannte der Doktor rustikal und urgesund. Er ermutigte den Jungen dazu, sich nicht in die Welt der anderen einverleiben zu lassen. Auch dann nicht, wenn alle anderen ihn davon überzeugen wollten, daß ihre Welt die richtige sei. Richtig, sagte der Doktor, würde sie für die anderen nur deshalb, weil sie millionenfach in den Köpfen verankert sei. So wie Hitler richtig gewesen sei oder die Inquisition.
    Wenn er im Bett lag, holte Willem das Trikot von Constanze hervor. Er lockte das Knistern aus dem Material, sein Atem wurde heiß, und mit den Gerüchen konnte ihm wieder ihr Lichtwesen erscheinen. Dann fühlte er sich geborgen und konnte endlich wieder Kraft schöpfen gegen den Schrecken der Leysieffer-Schwestern, gegen seine Mutter und ihre übergriffige Welt.
    Doch oft genug verflüchtigten sich die Bilder von Constanze auch, und er lag da, den Kopf im Trikot, und fand es ein seltsames, fast beschämendes Gefühl, sich so eng an dieses knisternde Material gebunden zu spüren. Und dann schien Constanze Lichtjahre entfernt, und vielleicht war sie

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