Kronjuwel (German Edition)
lähmen schien.
Die Minuten vergingen, während er weiter auf dem Boden saß. In unregelmäßigen Abständen hörte er draußen vor seinem Hotelzimmer Gäste den Flur entlang gehen, die sich dabei lautstark unterhielten, doch durch die Wände seines Hotelzimmers konnte Noah keine klar umrissenen Gesprächsfetzen, sondern nur dumpfe Geräusche wahrnehmen.
Sein Zimmertelefon klingelte. Noah verharrte einen Moment und wusste nicht, ob er den Anruf beantworten sollte. Dann drehte er sich ächzend auf die Seite und drückte sich mit beiden Armen hoch, zuerst auf die Knie, und stand dann mühsam auf. Unsicheren Schrittes ging er vorsichtig aus dem Bad und stützte sich dabei immer wieder an sicheren Punkten wie dem Türrahmen oder dem kleinen Wandschrank gegenüber seines Bettes ab. Er durchquerte das Hotelzimmer und warf sich auf das Bett, auf dem er in Richtung des Beistelltischchens kroch. Das Telefon klingelte schon zum siebten oder achten Mal, als Noah endlich den Hörer abnahm.
»Ja?«, sagte er mit schwacher, zittriger Stimme.
»Noah? Was ist los, Du klingst gar nicht gut«, sagte Doyle am anderen Ende der Leitung.
Noah spürte wie ein ungewohntes Gefühl in ihm aufstieg. Wenn er es hätte beschreiben wollen, wäre es wie abgrundtiefer Hass gewesen, nur bitterer und vor allem persönlicher.
»Ich komme gerade aus dem Bad«, gab er zurück, jetzt mit einer festeren Stimme, die unterschwellig vor Wut bebte.
»Okay. Wie wäre es, wenn wir uns heute Abend im Parkside Hotel treffen. Die Bar auf dem Dach soll der absolute Kracher sein.«
Noah überlegte einen Moment, wie er am besten antworten sollte, ohne Doyles Misstrauen zu erwecken.
»Nein, ich habe meinen Rückflug schon für heute Abend gebucht«, sagte Noah dann und spürte erneut, wie seine Stimme unwillkürlich anfing zu beben.
»Oh, wie schade. Hör‘ zu, ich habe da einen weiteren Job. Dieses Mal geht es um etwas großes, etwas wirklich, wirklich großes. Wenn du das durchziehst, brauchst du in deinem Leben nie wieder einen Cent. Sie haben im Smithsonian im Moment so eine Wanderausstellung, eines der Bilder ist ein Original von Andy Warhol. Ein Interessent ist an mich herangetreten und hat mich gefragt, ob wir da etwas unternehmen könnten.«
»Im Moment will ich eigentlich keinen weiteren Auftrag annehmen«, sagte Noah noch immer angespannt, doch Doyle ließ nicht locker.
»Noah, wir reden über einen Schwarzmarktpreis von fünfzig Millionen Dollar. Und der Käufer ist in DC, also könnten wir es sofort über die Bühne bringen, inklusive Verkauf noch vor Ort.«
»Ich überlege es mir, aber erstmal bin ich nicht interessiert«, sagte Noah und wollte das Gespräch endlich beenden.
»Na gut, aber denk‘ noch einmal darüber nach«, sagte Doyle und war offensichtlich enttäuscht, beinahe verärgert über Noahs Antwort.
Noah legte den Hörer auf und rollte sich auf dem Bett auf seinen Rücken, sodass er die cremefarbene Decke seines Hotelzimmers ansah.
Was hatte er getan? Mit jedem Cent, den er verdient hatte, die ganzen 11 Millionen Dollar, hatte Doyle den gleichen Betrag erhalten und damit vermutlich seine bestialischen Machenschaften finanziert.
Was hatte er getan? Er hasste sich selbst dafür, wie er in seinem blinden Wahn nach Geld und Anerkennung zu einem Gehilfen dieses Monsters geworden war. Wie Doyle gesagt hatte, er war das Kronjuwel in Doyles Organisation. Er musste nicht einen Finger krumm machen, und doch brachte Noahs Kunstdiebstahl ihm eine Million nach der anderen ein.
Was hatte er getan? Wer war er geworden?
Der Schleier, der seine Sicht auf die Dinge verändert hatte, sie vor seinen Augen hatte verschwimmen lassen, seit er zum ersten Mal vom Reichtum gekostet hatte, den er sich durch seine Verbrechen hatte verschaffen können, hatte einen tiefen, klaffenden Riss bekommen und gab den Blick frei auf die ganze, ungeschönte Wahrheit. Ein Anblick, der so hässlich war, dass Noah kaum wusste, wie er ihn ertragen sollte.
Ende
Langsam drehte er den Schlüssel im Schloss. Mit einem satten Klicken öffnete sich die Verriegelung und Noah schob die schwere Holztür auf. Mit hängenden Schultern betrat er sein Haus. Helles Sonnenlicht fiel durch die hohen Fenster in das große Innere der ehemaligen Kirche. Die weißen Wände nahmen das Licht auf und warfen es zurück in den einzigen langen Raum.
Ava kam breit lächelnd die Treppe heruntergestiegen. Sie ging auf Noah zu und für einen Augenblick glaubte Noah, dass sie gerade anfing,
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