Kryptum
endlich beginnen konnte.
Schnell stellte ich fest, daß die Gasse zum Brunnen auf alle Fälle freigehalten werden mußte. Mit Nabik an der Spitze bildeten die Brunnendiener vom Zamzam aus eine Kette, um das wertvolle Naß in Eimern bis ins Innere des Würfels weiterzureichen, wo es der oberste Brunnenhüter über den Marmorboden goß. Von dort floß es durch eine schmale Rinne zurück in den Innenhof, wo sich die Gläubigen drängelten, um ihre Häupter damit zu benetzen oder es zu trinken, und das, obwohl es so schmutzig war. Immerhin duftete es nach Rosenblättern.
Der Großscherif gab jedem von uns nun einen Besen aus feinen Palmblättern, nahm ebenfalls einen zur Hand und begann dann den Boden damit zu fegen. Es gab nicht viel zu tun, |569| denn durch die Wassergüsse blitzte der Boden bereits vor Sauberkeit. Unauffällig sah ich mich um und hielt nach den Inschriften Ausschau, von denen mir der Scheich des Felsendoms in Jerusalem und der Imam der Moschee in Kairo erzählt hatten und die mir vielleicht verraten würden, wie sich das Pergament richtig zusammenfügen und entschlüsseln ließ.
Das Dach des Würfels wurde von drei hölzernen Säulen gestützt, die mit rosafarbener Seide bekleidet und durch silberne Stangen miteinander verbunden waren. An ihnen hingen mehrere silberne Ampeln sowie zwölf Gebetstexte, die nicht offen, sondern verdeckt aufgehängt waren und die, wie ich später erfuhr, zu den weltweit erlesensten Kalligraphiearbeiten gehörten. Der Fußboden war mit verschiedenfarbigem Marmor gefliest, und an den Wänden verlief ein schöner Marmorsockel mit goldener Inschrift. Ich war verwirrt. Wo befand sich der Schlüssel zu den Pergamentzacken, die ich bei mir trug? Auf dem Sockel? Ich entzifferte seine Inschrift, doch es war nur einer der Koranverse, die Thron-Sure, ein häufig verwendetes Bittgebet. Ich fragte den Großscherif beiläufig nach all diesen Frömmigkeitsbezeugungen und entdeckte tiefes Mißtrauen in seinem Blick, als er mir antwortete.
›Die Inschriften und Gebetstexte werden immer ausgetauscht, wenn in Konstantinopel ein neuer Sultan den Thron besteigt. Beim letzten Mal haben wir darüber hinaus noch weitere Spenden erhalten, denn Süleiman der Prächtige hat unter anderem auch das Dach neu decken lassen.‹
Wahrscheinlich hatte bei diesen Erneuerungen die Kaaba jene labyrinthischen Linien eingebüßt, die für mich so wertvoll gewesen wären. Oder der Sockel war ausgetauscht worden, den der Scheich des Felsendoms und der Imam aus Kairo einst noch gesehen hatten. Der Schlüssel zu meinem Pergament mußte also in jenen kalligraphischen Gebetstexten zu finden sein, die von der Decke hingen und hohes Ansehen zu genießen schienen. Ich wollte den Großscherif schon danach fragen, als ich Sidi Beys warnenden Blick bemerkte. Das ließ mich von meinem Vorhaben absehen, denn jeder Argwohn würde |570| mein Leben in Gefahr bringen, und damit auch das seine. Ich widmete mich also meiner Aufgabe, den Boden zu fegen, wobei ich glühenden Glaubenseifer bezeugte, indem ich fortwährend Gebete murmelte. Dabei stellte ich fest, daß der Innenraum aus einem Quadrat mit einer Seitenlänge von etwas mehr als dreißig Fuß bestand und in etwa ebensohoch war. Während ich insgeheim diese Berechnungen anstellte und darüber meine Gebete vergaß, richtete sich der Großscherif, der mich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte, plötzlich auf und kam auf mich zu. Seine entschlossene Haltung ließ fürchten, daß er mich durchschaut hatte. Hilfesuchend blickte ich mich zu Sidi Bey um, doch er sah weg, als wolle er mir sagen, daß er nichts mehr für mich tun könne. Da packte mich der Großscherif am Arm und führte mich zur Tür, wo er mich der Menge zeigte, die laut zu johlen begann. Mit erhobener Hand gebot er Ruhe. Dann drehte er sich mit einem Ausdruck im Gesicht zu mir, der plötzlich sehr bedrohlich wirkte. Bei denen, die die Szene vom Zamzam aus beobachteten, stand Nabik, sein Giftmischer. Er lächelte mit verschlagener Miene. Mir wurde angst und bange.
Nach und nach trat Stille ein. Und dann verkündete der Großscherif jene feierlichen Worte, die ich nie vergessen werde:
›Haddem Beït Alá el Haram!‹
Er hatte mich zum Diener des Hauses Gottes ernannt, der Verbotenen Stadt! Die Menge brach in laute Hochrufe aus, und ich seufzte so laut auf, daß mein Gesicht beinahe verraten hätte, was ich wirklich verspürte: tiefe Erleichterung.
Die erste Prüfung hatte ich
Weitere Kostenlose Bücher