Kryptum
sehen, dann die Herrscher von Persien und des Maghreb, der Negus von Abessinien, dem heutigen Äthiopien … und schließlich derjenige, den Sara gesucht hatte … der einzige König, der bei seinem Eigennamen und nicht bei seinem Titel genannt wird … Rodrigo, der letzte König der Westgoten.«
»Woher wissen Sie, daß das König Rodrigo ist?«
»Sein Name steht direkt darunter, sehen Sie? Und daneben ist das Symbol, das das wertvollste seines Reiches repräsentiert. Genau das war es, was Sara interessierte.«
Rachel blickte die Archäologin fragend an.
»Ein Talisman. Das wertvollste aus dem Schatz der Westgoten, der hier im Königspalast in Antigua aufbewahrt wurde. Auf dieser Aufnahme sieht man es nicht besonders gut, aber ich kann es Ihnen gleich noch genauer zeigen. Er ist nämlich auch auf einem wesentlich größeren Mosaik dargestellt, das wir dort gefunden haben.«
|655| »Wollen Sie damit sagen, daß die Araber nach der Eroberung Spaniens diesen Talisman aus Antigua in den Wüstenpalast zu Kalif al-Walid I. brachten? So wichtig war er?«
»In der ›Sarazenischen Chronik‹ ist zu lesen, daß der wahre Grund für den Einfall in der Iberischen Halbinsel im Jahre 711 dieser Talisman war.«
»Juan de Maliaño hat mir einen Artikel von Sara gezeigt, in dem sie von dieser Geschichte und dem Königspalast schreibt, den Rodrigo geschändet haben soll. Aber ich dachte, das sei nur eine Legende. Hat sie etwa einen historischen Hintergrund?«
»Es heißt, daß die beiden Anführer des arabischen Eroberungsfeldzugs, Musa ibn Nusayr und Tāriq ibn Ziyād, sich um den Talisman gestritten hätten. Als der Kalif davon erfuhr, beorderte er die beiden in diesen Wüstenpalast von Qasarra, der erst kurz zuvor errichtet worden war. Nachdem sie ihm Rede und Antwort gestanden hatten, beschloß al-Walid I., die Eroberung Spaniens in die Wandfresken zu integrieren, die zu jener Zeit gerade gemalt wurden. Bei der Nachwelt würde er so in unermeßlichem Ansehen stehen, da seit dem Römischen Reich kein Herrscher mehr die beiden Endpunkte des Mittelmeers, den Orient und den Okzident, miteinander vereint hatte. Man muß allerdings hinzufügen, daß diese Symmetrie von Orient und Okzident für die islamische Malerei geradezu archetypisch ist: wenn etwas, was an einem Ende existiert, auch am anderen ist, hat das eine außergewöhnliche Überzeugungskraft.«
»In ihrem Artikel sprach meine Mutter auch von dem Zusammenhang zwischen der
Cava
, die Don Rodrigo geschändet haben soll, und der Kaaba in Mekka.«
»Na ja, das sind Saras Theorien. Was aber sicher stimmt, ist, daß es dem Kalifen neben der Eroberung Spaniens vorrangig darum ging, den Einfluß Mekkas einzudämmen, dieser heiligen, aber auch gefürchteten Stadt, denn aus ihr erwuchsen nichts als Probleme für die Kalifendynastie. Um die religiöse Bedeutung Jerusalems für den Islam zu stärken, erbauten al-Walid |656| I. und sein Vater Abd al-Malik auf dem Tempelbergplateau, wo einst Salomos Tempel stand, den Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee.«
»Und meine Mutter wußte das?«
»Natürlich. Sie hatte das alles für ihr Buch ›Von Babel zum Tempel‹ recherchiert. Ihre Mutter glaubte, daß diese beiden Ziele des Kalifen hier in Antigua zusammenliefen, denn der Schatz der Westgoten beinhaltete angeblich auch den Schatz von Salomos Tempel, der von Titus bei der Eroberung Jerusalems im Jahr 70 geraubt und nach Rom gebracht worden war. Fast vierhundert Jahre später, im Jahr 410, plünderte der Westgotenkönig Alarich dann Rom, und die Westgoten nahmen den Schatz mit nach Toulouse und von dort aus 507 mit nach Antigua. Das Wertvollste an diesem Schatz war der Talisman, der demjenigen, der ihn in seiner Gewalt hatte, den Thron sicherte. Deshalb wurde er im Königspalast von vierundzwanzig Schlössern geschützt, die niemand aufbrechen durfte. Bis Don Rodrigo diesem Verbot zuwiderhandelte und das Reich an al-Walids Statthalter verlor. Und hier setzt Saras Theorie an: Die von Don Rodrigo geschändete
Cava
war gar keine Jungfrau – die Tochter des Grafen Don Julián, wie es normalerweise heißt –, sondern ein Heiligtum wie die Kaaba in Mekka.«
»Das ist genau das, was meine Mutter in ihrem Artikel schreibt«, bestätigte Rachel.
»Jetzt können Sie besser verstehen, welche Bedeutung diese Wandfresken für sie hatten«, sagte die Archäologin mit einem Blick auf die Fotos. »Sie sind zur Zeit der Eroberung Spaniens entstanden und beweisen, daß die Geschichte mit dem
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