Kryptum
wurde sich verblüfft bewußt, daß er dieses Haus, das sein Vater so oft aufgesucht hatte, zum allerersten Mal betrat. Als er durch den Raum schlenderte, fiel ihm auf, wie gemütlich er trotz seiner Größe war. Mit Möbeln und Teppichen hatte man behagliche Sitzecken geschaffen, wo jeder Gegenstand seinen angestammten Platz hatte. Es gab keinen billigen Luxus, und die alten ledergebundenen Bände trugen das Gepräge vergangener Zeiten. Ein hohes Regal zog ihn an, auf dem ausschließlich Ausgaben der ›Odyssee‹ standen. Eine davon war von T. E. Shaw handsigniert.
»Das ist ein Pseudonym von Lawrence von Arabien«, erklärte er dem Kommissar, während er darin blätterte. »Laut meinem Vater ist es die beste Übersetzung ins Englische.«
Daneben stand eine kostbare arabische Ausgabe von ›Tausendundeine Nacht‹, die David nun andächtig herauszog. Bealfeld beobachtete ihn schweigend, hielt es dann aber für angebracht, David noch einmal vorzuwarnen.
»Tun Sie mir einen Gefallen, David. Verbeißen Sie sich nicht in Diskussionen, die zu nichts führen. Was vorbei ist, ist vorbei.«
David sah ihn kurz an und nickte, bevor er sich weiter in der Bibliothek umsah. Sein Blick blieb an dem unverhältnismäßig großen Marmorkamin hängen, auf dessen Sims mehrere Sporttrophäen standen. Sie mußten noch von Peggy Toledano stammen, die auf mehreren Fotos beim Springreiten zu sehen war. Aber es gab auch einige Bilder ihres Schwiegersohns, George Ibbetson. Auf einem posierte er als Kapitän einer Rugbymannschaft und hob einen Siegerpokal hoch. Und auf einem anderen war er mit denselben Kameraden verewigt, diesmal am Tag seiner Hochzeit mit Sara, vor der Kapelle der Elite-Universität, wo sie sich kennengelernt hatten. Die verwirrte Braut stand in ihrer Mitte und wirkte so verloren wie eine achtjährige Pfadfinderin bei ihrem ersten Feldlager.
David wollte gerade nach dem Foto greifen, um es sich genauer |150| anzusehen, da zupfte ihn Bealfeld am Ärmel und hob die Augenbrauen. Als er sich umdrehte, zuckte er zusammen. Direkt vor ihm stand Rachel Toledano.
Er hatte sie nicht hereinkommen hören. Und er hatte sie auch nicht so jung und blond in Erinnerung. Das mußte an dem Kostüm gelegen haben, in dem er sie in der Redaktion gesehen hatte. Jetzt sah sie ganz anders aus. Die Hose aus grobem Leinen und das blaue, enganliegende Trägertop mit dem großen Ausschnitt brachten ihre Figur hervorragend zur Geltung. Das Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, was ihren schlanken Hals und die feinen, dezent geschminkten Züge betonte. Die Turnschuhe, mit denen sie sich so katzenhaft bewegte, daß kein Laut zu hören war, hätten bei jedem anderen reichlich salopp ausgesehen, nicht aber bei Rachel Toledano. Alles an ihr, dachte David auf einmal verlegen, ist allererste Sahne.
Obwohl er so dicht vor ihr stand, ignorierte ihn die junge Frau und streckte dem Kommissar zuerst die Hand zur Begrüßung hin. Erst danach wandte sie sich an ihn, nickte ihm aber nur zu und musterte ihn dann von Kopf bis Fuß. Trotz ihrer scheinbaren Selbstbeherrschung wirkte sie angespannt, als sei sie bereit, bei der ersten Gelegenheit zornig aufzufahren. Und ihre Miene verdüsterte sich in dem Maße, wie der Kommissar sie auf den aktuellen Stand dessen brachte, was er über ihre Mutter wußte; besonderen Nachdruck legte er darauf, daß sie alle ihre Kräfte vereinigen müßten, um Sara aufzuspüren.
Rachel nickte wortlos und wandte sich dann schnell ab, um sich die Angst um ihre Mutter nicht anmerken zu lassen. Sie bedeutete den beiden, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und setzte sich selbst in einen Sessel. Nach einer Weile blickte sie auf und räusperte sich.
»Hat man Mr. Calderón wirklich offiziell damit betraut, das rätselhafte Verschwinden meiner Mutter aufzuklären?«
Keinem der beiden blieb verborgen, worauf sie hinauswollte: Wie man es auch drehte und wendete und so eng er auch mit Sara zusammengearbeitet haben mochte, David hatte gerade |151| eine Straftat begangen. Es war klar, daß der Geschäftsführer der Stiftung Rachel angerufen hatte, um sie von ihrer überstürzten Flucht in Kenntnis zu setzen. David hatte Unterlagen mitgehen lassen, die der Stiftung gehörten und allein dort eingesehen werden durften. Es wäre aber etwas völlig anderes, wenn er dies im Auftrag der Regierung getan hatte.
Im Bewußtsein, daß sich ein neuerlicher heftiger Zusammenstoß zwischen den beiden ankündigte, versuchte Bealfeld sie deshalb
Weitere Kostenlose Bücher