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Kryptum

Kryptum

Titel: Kryptum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agustín Sánchez Vidal
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doch recht. Vielleicht war sie wirklich aufrichtig. Er blickte sie an und bemerkte erstmals, was für schöne leuchtendgrüne Augen sie hatte. Jetzt, wo Tränen darin standen, wirkten sie gar nicht mehr katzenhaft, eher warm, ja sogar vertraut, da sie ihn sehr an Saras erinnerten. Diese blitzartige Erkenntnis ließ ihn einen Augenblick lang vergessen, wo er sich befand. Er brauchte eine ganze Weile, bis er den Faden wiederfand und fragen konnte:
    »Haben Sie sich auch die Dateien auf der CD angesehen?«
    »Was für Dateien?«
    »Die mit den Notizen, die Sara sich im Archiv des Convento gemacht hat. Und vielleicht gibt es ja noch mehr darauf …«, bohrte David nach.
    Rachel schüttelte den Kopf und überflog noch einmal den Brief.
    »Stimmt, Sie schreibt von einer CD. Aber in dem Umschlag war keine.«
    »Hat sie es vergessen? Was meinen Sie, Kommissar?«
    |154| »Es gibt noch einen dritten Umschlag, aber den dürfen wir nicht öffnen«, erklärte Bealfeld. »Er ist für James Minspert.«
    Rachel Toledano konnte ihre Verzweiflung kaum noch unterdrücken. Mit zitternden Fingern zog sie eine Zigarette aus dem silbernen Zigarettenetui auf dem Tisch.
    »Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich rauche.« Nach dem ersten Zug fing sie an zu sprechen. »Ich glaube, ich sollte Ihnen etwas vorlesen, was meine Mutter in ihrem Brief schreibt. Ein Satz, mit dem Sie, Mr. Calderón, vielleicht etwas anfangen können: ›Selbst der winzigste Grashalm ist ein Symbol.‹«
    »Aber sicher kann ich das! Das war die erste Kryptologie-Lektion meines Vaters«, rief David aus. Da die beiden anderen ihn überrascht ansahen, weil diese Antwort wie aus der Pistole geschossen kam, setzte er zu einer Erklärung an:»Am Tag der ersten Unterrichtsstunde nahm mein Vater immer mehrere Bleistifte in die Hand und brach sie entzwei. Er stieg vom Katheder und verteilte die Hälften unter den Studenten und Studentinnen. Dann hieß er sie nach vorne zur Tafel kommen und forderte sie vor ihren Kommilitonen auf, die Stücke wieder zusammenzusetzen. Das war nicht schwierig, denn nur zwei bestimmte Hälften paßten zueinander. Kein Stift bricht auf dieselbe Art und Weise. Nachdem alle ihr Gegenstück gefunden hatten, erklärte er, dies sei das erste kryptographische Verfahren überhaupt gewesen, das schon die alten Griechen verwendet hätten: Wenn ein General einen Spähtrupp ausschicken wollte, nahm er ein Holzstück, einen Ast beispielsweise, brach ihn in zwei Teile und überreichte eines davon dem Kommandanten dieser Vorhut. Das andere behielt er selbst. Wenn er danach eine Botschaft zu übermitteln hatte, gab er dieses Stück dem Boten mit, so daß der Kommandant des Spähtrupps nur die beiden Stücke aneinanderfügen mußte, um zu wissen, daß der Botschafter vertrauenswürdig war. Das nannten die Griechen
symbolon
. Mein Vater sagte, das Symbol sei das erste Kryptogramm gewesen, mit dem der menschliche Verstand die Welt begriffen habe. Darauf basiert dieser Merksatz: ›Selbst der winzigste Grashalm ist ein Symbol.‹«
    |155| »Wenn ich Sie richtig verstehe, will Sara damit andeuten, daß sie hier dieselbe Methode angewendet hat«, meldete sich Bealfeld zu Wort.
    »Nun, dieses Verfahren wird noch heute genutzt, denn es ist sehr einfach und sicher. Wenn Sie mit jemandem in Kontakt treten wollen, nehmen Sie einfach eine U-Bahn - oder Busfahrkarte und reißen sie entzwei. So können Sie Ihre Kontaktperson zweifelsfrei identifizieren.«
    »Und was wären jetzt die beiden Hälften? Die Umschläge, die Sara an Sie beide geschickt hat?« fragte Bealfeld.
    »Das ist meine Hypothese. Aus irgendeinem Grund will Sara verhindern, daß einer von uns beiden ohne den anderen agiert. Fragen Sie mich nicht warum, aber für mich steht das außer Frage.«
    »Als Sie, Mr. Calderón, diese Unterlagen aus der Stiftung entwendeten,
haben
Sie bereits eigenmächtig gehandelt«, sagte Rachel.
    David verkniff sich eine bissige Bemerkung und beschränkte sich darauf, ihr den Brief hinzuhalten, den Sara ihm geschickt hatte. Er deutete auf einen Absatz.
    »Hier, lesen Sie das. Ich habe nicht eigenmächtig, sondern auf Anweisung Ihrer Mutter gehandelt. Ich denke, daß sie ihre Gründe gehabt haben wird, mich zu bitten, diese Dokumente mitzunehmen.«
    »Wie Sie wissen, läßt sich meine Mutter oft zu unüberlegten Handlungen hinreißen und …«
    »Es steht mir nicht zu, über Sara zu urteilen«, fiel ihr der Kryptologe ins Wort. »Lassen Sie uns lieber zur Sache kommen. Ich glaube,

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