Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kryptum

Kryptum

Titel: Kryptum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agustín Sánchez Vidal
Vom Netzwerk:
sagen, er wolle sich jedenfalls frei bewegen und alles anschauen können, wie es ihm beliebe; alles andere hieße denen recht zu geben, die die Männer des Königs als eigene Gesellschaftsschicht ansehen |236| . Außerdem hat sein Sohn Rafael Geburtstag. Es ist Markttag und somit eine hervorragende Gelegenheit, ihm ein Geschenk zu kaufen, wie seine Frau, Doña Blanca, ihn erinnert hat.
    Der Junge ist früh aufgewacht und hüpft bereits den ganzen Morgen durch den Palast neben der Casa de la Estanca, immer hinter dem Vater her. Seit Stunden liegt er ihm schon in den Ohren, er möge mit ihm auf den Markt gehen, aber Manuel Calderón muß zuerst die für diesen Tag anstehenden Dinge erledigen, bevor sie das Haus verlassen können.
    Sie machen einen Umweg, um nicht den Gestank nach Tannin und gegerbten Fellen, der aus den Gerbereien dringt, einatmen zu müssen. Doch dem durch die Hitze und Trockenheit noch schlimmer gewordenen Gestank der Mistgruben können sie nicht ausweichen, und als sie zurück auf die größeren Straßen kommen, müssen sie immer wieder an den Straßenrand treten, um die Lasttiere vorbeizulassen. Als sie an dem kleinen Pfarrfriedhof vorbeigehen, vernimmt Don Manuel das unheilverkündende Krächzen zweier Raben, dem er jedoch keine Bedeutung beimißt. Kurz darauf erblicken sie die ersten Marktstände der Kürschner, Lumpenhändler und Schneider. An einem bleibt Rafael stehen, um sich die Hemden anzusehen. Als er eins findet, das ihm gefällt – ein sehr schönes, mit gefüttertem Kragen –, legt Don Manuel es jedoch wieder zurück, da sich bei soviel Saum leicht Flöhe und Läuse darin einnisten können. Folglich wählt Rafael ein Hemd mit einfachem Kragen, und sein Vater schenkt ihm noch einen passend verzierten Gürtel dazu.
    ›Jetzt gehen wir wieder nach Hause, mein Sohn‹, sagt Don Manuel.
    ›Nein, noch nicht!‹ protestiert der Junge. ›Ich möchte doch noch so gern die Gaukler und Spielleute sehen.‹
    Don Manuel gibt nach, wahrscheinlich denkt er, daß ein alter Vater wohl immer eher wie ein Großvater handelt und seine Kinder verzieht, weil er ihnen einfach nichts abschlagen kann.
    Also bahnen sie sich einen Weg durch die immer dichter |237| werdende Menschenmenge, die wie sie zum Marktplatz strömt. Unter den Bogengängen stehen dort die Geldwechsler mit ihren Waagen für Gold und Silber. Zwei Weber zanken sich mit einem Scherenschleifer, der seinen Schleifstein viel zu nah an ihren Webstühlen aufgestellt hat, so daß sich ein wahrer Funkenregen über sie ergießt. Daneben spinnen Frauen Wolle und schwatzen mit einer Nachbarin, die Reste der Holzkohle vom Eingang ihres Hauses fegt, welche ihr ein paar Holzhändler soeben gebracht haben. Gegenüber einem Käsestand liest eine Hellseherin einem Jungen aus der Hand, unter dem skeptischen Blick des Vaters, der darauf wartet, beim Zahndoktor an die Reihe zu kommen.
    All das haben sich Don Manuel und Rafael Calderón schon angesehen, als eine Menschenansammlung ihre Aufmerksamkeit weckt, die am anderen Ende des Platzes einen Kreis gebildet hat. Man tuschelt, und große Spannung liegt in der Luft, doch als sie näher treten, entdecken sie nur einen jungen Burschen, der gerade Purzelbäume schlägt. Er hat nicht einmal eine behelfsmäßige Bühne aufgebaut, sondern führt die bereits oft gesehenen Kunststückchen auf dem blanken Boden vor. Vater und Sohn wollen schon weitergehen, als der Gaukler in die Hände klatscht und das Wort an sein Publikum richtet, das ihn gut zu kennen scheint und deshalb von vornherein willig ist, auf seine Späße einzugehen. Inzwischen haben sich auch noch weitere Schaulustige dazugesellt, so daß er mehr Publikum als alle anderen Akrobaten auf dem Platz hat.
    Alsdann beginnt die eigentliche Vorstellung. Der junge Mann legt die Keulen, mit denen er zuletzt jongliert hat, auf den Boden und dreht sich zu einem Esel um, einem kleinen, flink wirkenden Langohr mit lebendigen Augen, das am Rande des Kreises gerade aus einem scheinbar tiefen Schlaf erwacht. Auf ein Zeichen seines Herrn erhebt es sich und trottet in die Mitte, wo der Gaukler ihm nun über den Rücken streicht, mit vorgetäuschter Bewunderung seine muskulöse Kruppe befühlt und dann mit lauter und klarer Stimme, so daß alle ihn gut hören können, mit dem Eselchen spricht.
    |238| ›Verehrter Herr Esel, Ihr solltet wissen, daß Seine Majestät der König darauf brennt, die Arbeiten am Alkazar endlich fertiggestellt zu sehen. Er will sie vorantreiben,

Weitere Kostenlose Bücher