Kryson 02 - Diener des dunklen Hirten.epub
ihn in gleichmäßig rhythmischen Bewegungen vor und zurück. Wieder und wieder, seit schier unendlich langer Zeit. Sie erinnerte sich an den schrecklichen Tod ihres geliebten Mannes. Gespießt und angezündet hatten die Rachuren ihn. Sein Gesichtsausdruck und die tiefe Verzweiflung seines qualvollen Sterbens hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Wie lange lag das nun schon zurück? Sie wusste es nicht mehr. Es musste eine halbe Ewigkeit sein. Ihre Augen hatten sich inzwischen an die fortwährende Dunkelheit gewöhnt. Dennoch konnte sie in dem leeren Raum nichts erkennen.
Ich bin tot. Das muss das Reich der Schatten sein. Ist dies die Ewigkeit, die uns nach dem Tod erwartet? Ein graues, kaltes Nichts, das wir gleichgültig und immerfort erdulden? Zyagral, wo bist du?, dachte sie und sehnte sich nach der liebevollen, wärmenden Umarmung ihres verstorbenen Geliebten. Vergebens. Zyagral kam nicht zu ihr. Vielleicht suchte er sie in den Schatten und konnte sie nicht finden?
Plötzlich schreckte sie hoch. Eine Stimme? Wer spricht zu mir durch die Schatten?, ging es ihr durch den Kopf. Eindeutig. Sie hatte eine Stimme vernommen. Undeutlich und fremd zwar, aber sie war da gewesen. Ihre Augen versuchten die Dunkelheit der Kammer zu durchdringen. Nur schemenhaft und verschwommen konnte sie eine groß und schlank gewachsene Gestalt wahrnehmen, die aufrecht und langsam auf sie zukam. Sosehr sie sich auch bemühte, die Gestalt zu erkennen, ihre Umrisse blieben unklar und schienen immer wieder auf seltsame Weise mit der Umgebung zu verschwimmen. Die Stimme war ohne Zweifel männlich. Sie hörte sie nun deutlicher. Jemand stand direkt vor ihr und streckte ihr eine Hand entgegen. Die Worte klangen merkwürdig fremd, nach einem alten Akzent, und doch waren sie in ihrer Sprache geformt, sodass sie verstehen konnte, was er sagte.
»Wer seid Ihr?«, fragte die Stimme, die sich warm und freundlich anhörte.
Ihr Name lag ihr auf den Lippen. Solras, mein Name ist Solras , wollte sie ihm ins Gesicht schreien. Doch sie wagte nicht zu antworten und schwieg. Die Gestalt beugte sich zu ihr herab und berührte vorsichtig ihre Fuß- und Handgelenke. Erst verspürte sie Erleichterung, als das scheuernde Brennen an den Gelenken verschwand. Kurz darauf kehrte allerdings das Gefühl schmerzhaft in ihre Glieder zurück, als sich Hände und Füße pulsierend wieder mit ihrem eigenen Blut füllten.
»Könnt Ihr gehen?«, fragte die Stimme weiter.
Sie starrte ihn aus leeren Augen regungslos an. Der Mann roch angenehm nach Wald, Erde und Moos. Er nahm sie auf seine Arme und trug sie durch die Dunkelheit fort.
Taderijmon fluchte leise vor sich hin. Das war der wohl dunkelste Tag in seinem bisherigen Leben als Jäger gewesen. Zwei junge Gefährten, für die er sich verantwortlich fühlte, hatten ihr Leben gelassen und sein Bruder Baijosto war in den Bäumen mit einem Rudel Baumwölfe verschwunden. Der Naiki hatte die beiden gefallenen Männer oder das, was von ihnen übrig geblieben war, mit Blättern und Zweigen zugedeckt, bevor er sich der jungen Klanfrau näherte.
Zu seinem Bedauern stellte er fest, dass sie den Verstand verloren zu haben schien. Sie wirkte abwesend und völlig in sich gekehrt. Er konnte nicht sagen, ob sie ihn überhaupt wahrnahm, als er sie hochhob und zur Siedlung trug. Im Moment schien sie jedenfalls zu schlafen. Ihre Augen waren geschlossen und sie atmete langsam und gleichmäßig. Mehrmals hatte Taderijmon sie angesprochen, aber sie hatte keinerlei Reaktion gezeigt und ihm ihren Namen nicht genannt. Es kam ihm vor, als wäre er ein durchsichtiger Geist. Er nahm an, dass sie ihn nicht gehört hatte.
Obwohl sie für seinen Geschmack zu dünn und auch nicht allzu groß gewachsen war, erschien ihm ihr Gewicht mit jedem Schritt schwerer zu werden. Er musste zwischendurch rasten und neue Kräfte sammeln. Währenddessen setzte er sie behutsam ab und lehnte sie meist gegen einen Baumstamm. Taderijmon machte sich Sorgen, die Klanfrau wirkte völlig kraft- und teilnahmslos. Sie musste ihrem bedenklichen Zustand nach einiges durchgemacht haben. Hätte sie nicht geatmet und sich ihr Körper kalt angefühlt, wäre sie als leblose Puppe durchgegangen.
Während einer der immer häufiger und länger werdenden Rasten nahm Taderijmon ein verdächtiges Rascheln in den Baumwipfeln über ihnen war. Nichts Gutes ahnend glitt der Blick des Jägers sofort suchend nach oben. Er erkannte, was er befürchtet hatte. Die Baumwölfe waren zurück.
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