Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
Orna?«
»Frag mich nicht danach, ich weiß nur wenig darüber. Der Bewahrer ist nicht sehr gesprächig. Er handelt lieber. Aber es ist gewiss etwas, das ein Mann wie Madhrab einfach tun muss. Der Lordmaster wird immer der sein, der er ist – eine ewige Konstante im aufkommenden Chaos des Gleichgewichts. Selbst wenn die Welt um ihn herum zerfällt, wird er wie ein Fels in der Brandung stehen und Welle um Welle abwehren. Es wird um Liebe, Verpflichtungen, Ehre und Freiheit gehen … wer weiß … jedenfalls wird er mit der Erledigung nicht auf das Verständnis aller stoßen und manchen dabei gewaltig in ihr Essen spucken.«
*
Elischa lehnte entspannt am Fenster ihrer Kammer und starrte gedankenverloren auf das offene Meer hinaus. Selbst hier in Eisbergen war das Licht in den vergangenen Monden dunkler geworden. Die spärlich eintreffende Kunde aus den vor dem Riesengebirge liegenden Klanlanden ließ Schlimmes vermuten. Elischa wollte nicht wissen, wie es sich anfühlte, jeden Tag in der Dunkelheit verbringen zu müssen. Die Vorstellung war ihr unheimlich. Bestimmt verloren die Klan ihre Lebensfreude und fristeten ein Dasein in Angst und Schrecken.
Corusal hatte die Zeit der Dämmerung in Eisbergen mit einem gerade beginnenden Winter verglichen. Doch der Winter war vergangen und eigentlich sollten die Sonnen in dieser Sonnenwendenzeit länger und vor allem stärker scheinen. Der Zauber des dunklen Hirten war deshalb auch im hohen Norden spürbar, obwohl er aufgrund des Standes der Sonnen niemals seine volle Wirkung erzielen konnte.
Madhrab, wo bist du? Hoffentlich geht es dir gut! Ich mache mir Sorgen. Alles hat sich verändert und nicht zum Guten. Komm bald zurück. Ich brauche dich hier , ließ sie ihre Gedanken schweifen und betete zu den Kojos, dass Madhrab kein Leid zustoße.
Sie hatten im Palast und auf den Marktplätzen von Eisbergen von den Händlern gehört, dass die Zeit der Dämmerung und die mit ihr einhergehende Dunkelheit die Klanlande allmählich in eine weitere, bis dahin nie gekannte Not stürzten. Als ob die Eroberungszüge der Rachuren, die Naturkatastrophen, die Schlacht am Rayhin, Hungersnöte und die Geißel der Schatten nicht schon genug gewesen wären. Ein Fluch lag über den Nno-bei-Klan, der ihnen mit Gewalt das Genick brechen wollte. War das die Strafe für ein ausschweifendes Leben, kriegerische Auseinandersetzungen und die Ausbeutung der Natur? Straften die Kojos ihre Gläubigen? Über Tut-El-Baya rankten sich die wildesten Gerüchte. Die Regentenstadt sei gefallen und gehöre nun der Dunkelheit und den Schatten an. Die Regentin Raussa sei durch den obersten Praister Thezael gestürzt worden, der sich selbst den Schatten verschrieben habe, und irre nun als todbringende Geißel der Schatten, nach Rache dürstend durch die Straßen der Stadt. Aber selbst die Häuser der Bewahrer und Orna seien gefährdet und drohten an die Dunkelheit zu fallen, hatte ein Händler berichtet, nachdem er in Elischa eine Orna erkannt hatte.
»Die Bluttrinker erheben sich. Es ist grauenhaft. Überall tauchen Quadalkars Kinder auf ihrem Marsch gen Südwesten auf und trinken ganze Dörfer leer, wenn sie denn noch auf Überlebende stoßen. Die Klanlande versinken im Chaos und sind dem Untergang geweiht. Selbst wenn das Licht eines Tages zurückkehren sollte, werden wir uns alle verändert haben, und die Zeit der Dämmerung wird tiefe Spuren hinterlassen.«
Elischa konnte die Nachrichten kaum fassen. Wahrscheinlich war manches übertrieben oder gar falsch berichtet worden, hörten sich die Schilderungen für die Orna zuweilen doch recht unglaubwürdig und mit hinzugedichteten Schauergeschichten ausgeschmückt und überzogen an. Dennoch musste sie davon ausgehen, dass die meisten Berichte zumindest in ihrem Kern glaubhaft waren. Wie war dies alles nur möglich? War der dunkle Hirte wirklich so mächtig geworden? Sie hatte in den Archiven des Ordens einiges über ihn und seinen Bruder gelesen und auch über Ulljan, dessen Erbe sie in den Häusern des hohen Vaters und der heiligen Mutter bewahrten. Wenigstens Teile davon. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Saijrae alleine für all die Veränderungen auf Ell verantwortlich zeichnete. Gewiss, er war schon als Schatten der Vergangenheit mächtig gewesen, schenkte man den überlieferten Schriften in den Archiven Glauben. In Tausenden von Sonnenwenden waren er und sein Bruder während des Schlafes noch erstarkt, und sein Geist bevorzugte nach allem, was sie
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