Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
fragte der weiße Schäfer. »Ich frage mich, wie ihr die Prüfungen bestanden habt.«
»Gemeinsam sind wir stark, Herr«, antwortete Enymon beinahe zu ehrlich, »alleine wären wir verloren gewesen und hätten wahrscheinlich keine der uns aufgetragenen Aufgaben bewältigt.«
»Ich hatte keine Antwort auf meine Frage von dir erwartet, Enymon«, erwiderte der weiße Schäfer streng, »aber du und dein Gefährte seid wahrlich zu nichts zu gebrauchen. Was soll ich mit euch beiden anfangen, die ihr noch nicht einmal die richtigen Schlüsse aus meinen Worten ziehen könnt. Aber dennoch gut zu wissen, dass ihr schwach seid und im Grunde zu Unrecht bei den Saijkalrae als Diener aufgenommen wurdet.«
Der weiße Schäfer wusste nur zu genau, was es bedeutete, lediglich gemeinsam zu voller Stärke und vor allem der magischen Begabung zu gelangen. Das Paar erinnerte ihn – und das war es, was ihn besonders ärgerte – insgeheim an ihn selbst und Saijrae, obwohl die Fähigkeiten von Enymon und Raalahard die seinen bei Weitem nicht erreichten.
Aber er bewunderte ihren Zusammenhalt. Was sie verband, war mehr als nur das Dasein als Diener der Saijkalrae. Sie würden sich ihm oder seinem Bruder niemals ganz verschreiben und ihre Herzen mit Leere füllen, um die Liebe der Saijkalrae-Brüder zu empfangen. Ein Teil davon gehörte stets dem anderen Gefährten. In seinen Augen waren sie daher, jeder für sich genommen, nicht einmal zur Hälfte Saijkalsan. Sie waren nichts in seinen Augen.
Sein Bruder und er waren, im Vergleich zu den mächtigen Lesvaraq, alleine nicht in der Lage, die Herausforderungen der Magie zur Vollkommenheit zu meistern. Als Einheit jedoch galten sie, bei geschicktem und überlegtem Einsatz ihrer gebündelten Kräfte, als beinahe unschlagbar. In längst vergessenen oder verdrängten Tagen hatten sie eine lange Zeit gebraucht, diese Tatsache ihrer engen Verbundenheit zu erkennen, und noch länger, diesen Aspekt ihrer Macht zu akzeptieren. Sie war Bedingung für die Wahrung des Gleichgewichtes. Erst nach einem erbitterten Kampf gegeneinander, in welchem es keinen Sieger geben konnte, hatten sie erfahren, was es für sie bedeutete, Brüder zu sein. Brüder, die sich nicht nur im Geiste nahe waren oder über einen Orden zusammenschlossen, um ein Ziel zu erreichen. Sie waren leibliche Brüder, so unterschiedlich und gegensätzlich sie auch sein mochten. Sie hassten und sie liebten sich. Immer wieder hatte es in den Schatten der Vergangenheit Zeiten gegeben, in denen der eine dem anderen nach dem Leben trachtete oder zumindest versuchte die Vorherrschaft über den jeweils anderen zu erlangen. Gelungen war ein solcher Vorstoß weder dem dunklen Hirten noch dem weißen Schäfer.
»Rauch! Der Wald brennt!«, rief der weiße Schäfer.
»Ach, diesen Geruch meintet Ihr«, sagte Raalahard betroffen.
»Natürlich, welchen denn sonst?«, antwortete der weiße Schäfer wiederum mit einer Frage, die er nicht wirklich beantwortet haben wollte. »Ich vermute, der Kampf hat bereits begonnen und die Siedlung der Naiki brennt. Wir folgen einfach den dichter werdenden Rauchschwaden und werden auf meinen Bruder stoßen. Er kann nicht mehr weit entfernt sein.«
Saijkal setzte sich im Laufschritt in Bewegung. Enymon und Raalahard sahen sich ratlos und schulterzuckend an. Doch folgten sie ihm gehorsam in einigem Abstand. Sie verstanden nicht, warum er sich Sorgen um Saijrae machte. Immerhin handelte es sich um den dunklen Hirten. In ihren Augen war er eines der gefährlichsten und gefürchtetsten Wesen auf Kryson, das sich gewiss zu verteidigen wusste. Wovor sollte er sich fürchten? Einen Naiki hingegen oder erst recht einen Lesvaraq hatten sie nie zu Gesicht bekommen. Bis jetzt jedenfalls.
Die alte Hexe musste den dunklen Hirten aufhalten und Zeit gewinnen. Wertvolle Zeit, um ihrem Volk die Flucht zu ermöglichen. Sie musste ihn ablenken und, solange es ging, durchhalten. Ihre Sinne waren bis aufs Äußerste geschärft. Und doch spürte sie ihre Kräfte allmählich nachlassen, je länger sie sich auf den Beinen halten musste. Metaha wusste, dass sie am Ende ihres langen Lebens angelangt war. Viel hatte sie nicht mehr zu verlieren, denn nach dem Kampf war ihr der Tod gewiss. Im Grunde ging es für sie nur noch darum, auf welche Weise sie in das Land der Tränen gelangen würde. Aber sie hatte nicht vor, es dem dunklen Hirten leicht zu machen. Seinen Angriffen standhalten, ihm ein letztes Mal ihre Macht beweisen und seine Grenzen
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