Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
verweigern. Viele Dorfbewohner mussten noch in den letzten Tagen des Winters ihr Leben lassen. Wenn sie nicht verhungerten, erfroren sie aus Schwäche, mit ausgestreckten Händen um ein Stück Brot bettelnd, mitten auf den unbefestigten Straßen des Dorfes. Die erkalteten Leiber der Toten wurden liegen gelassen. Niemand kümmerte sich um ihre Bestattung bis auf den seltsamen Jungen, der für sie auf seiner Flöte spielte und die Schatten herbeirief, um ihnen das letzte Geleit zu geben. Der Lordmaster der Bewahrer zeigte kein Mitleid. Niemand durfte das Dorf während der Wintermonde verlassen. Chromlion hatte jeden Fluchtversuch mit brachialer Gewalt unterbunden.
Doch der Winter ging vorbei und die Wege über den Choquai wurden mit der einsetzenden Schneeschmelze begehbar. Selbst die Zeit der Dämmerung konnte daran nichts ändern. Als die erste Handelskarawane Kalayan erreichte, rief Chromlion die Bewahrer und Sonnenreiter zum Aufbruch zusammen. Die wenigen Händler, die sich der Karawane angeschlossen hatten, zeigten sich entsetzt, als sie das Dorf betraten.
Während der Eroberungskriege der Rachuren hatten sie auf ihren Reisen durch die Klanlande Schreckliches gesehen. Das Antlitz des Krieges hatte Spuren in ihren Köpfen hinterlassen. Dennoch erinnerte sich keiner daran, jemals Grausameres als in Kalayan erblickt zu haben. Zu jeder Sonnenwende waren sie nach Einsetzen der Schneeschmelze in das Dorf gezogen und stets zuvorkommend und freundlich behandelt worden. Wenn die erste Karawane nach dem Winter in Kalayan eingetroffen war, hatte es ein gemeinsames großes Freudenfest gegeben. Ein Fest des Wiedersehens, das den Winter endgültig vertreiben und erfolgreiche Geschäfte bescheren sollte. Die Dorfbewohner waren im Lauf der Zeit zu ihren Freunden geworden.
Die Händler stellten keine Fragen, sondern betrachteten in stiller Trauer das sich ihnen bietende Bild. In ihren Gedanken malten sie sich aus, was geschehen war und welchem Schrecken das Dorf über den Winter ausgesetzt gewesen sein musste. Unter den Überlebenden fanden sie keine lachenden Gesichter, keine Freude oder Erleichterung ob ihres Erscheinens. Sie waren nicht weniger tot als die Toten selbst. Die Schatten hingen wie ein Fluch über Kalayan. Es würde lange dauern, bis sie sich eines Tages verziehen würden. Sollte dies nach Generationen je geschehen, würden die Opfer dieses Winters dennoch nie vergessen werden und in den Köpfen der Hinterbliebenen sowie deren Kindern weiterleben. Und ein Name würde sich wie ein Schatten in das Gedächtnis der Klan brennen. Vom Großvater zum Vater, vom Vater zum Sohn würde der Name weitergegeben. Mal flüsternd, mal laut.
Chromlion.
Schneller als geplant brach die Karawane in Begleitung des Bewahrers Chromlion zum Choquai-Pass auf. Als die Sonnenreiter das Dorf verließen, blickten ihnen dreiundzwanzig Augenpaare nach. Dreiundzwanzig Frauen, Männer und Kinder von einst über zweihundert Einwohnern des Dorfes. Die übrigen weilten unter den Schatten. Sich an den Händen haltend verfolgten die Überlebenden schweigend den Abzug des Bewahrers, bis er aus ihrem Blick verschwunden war. Der Junge namens Madsick spielte auf seiner Flöte. Bis auf ihr Gefühl der Zusammengehörigkeit war ihnen nichts geblieben. Sie empfanden keine Erleichterung und auch keine Trauer oder etwa Hass. Die Hoffnung hatten sie längst fahren lassen und die Zeit der Dämmerung drückte zusätzlich auf ihr Gemüt. Eine unglaubliche Leere erfüllte ihre Herzen. Da war nichts anderes zu finden.
Einfach nur nichts.
In nur fünf Tagen ohne Zwischenfälle hatte die Karawane den Choquai überquert und erreichte die ersten Ausläufer von Eisbergen. Die Händler wurden unter großem Jubel in den Straßen der Stadt empfangen. Nach den Katastrophen, die Eisbergen vor dem Winter heimgesucht hatten, war dies die erste Karawane aus den übrigen Klanlanden, die in der nördlichsten Stadt des Fürstentums Alchovi eintraf. Die Schiffe würden den Hafen erst viel später anlaufen können. Nachrichten aus den Klanlanden wurden wissbegierig aufgenommen. Schnell bildeten sich große Ansammlungen von Klan, die es sich nicht nehmen lassen wollten, ihre Freude zu zeigen und die Händler zu begrüßen. Sie umringten die wenigen Frauen und Männer, um sich bloß nichts entgehen zu lassen. Dabei war es ihnen gleichgültig, wie abenteuerlich oder ausgeschmückt die Berichte der Händler ausfielen. Hauptsache, sie erhielten überhaupt Informationen, und sei es nur
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