Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
der Gründe, warum er sich auf den langen Weg nach Eisbergen gemacht und den ganzen Winter über bis zur Schneeschmelze in Kalayan ausgeharrt hatte. Statt mit ihm das Band der Orna und der Bewahrer zu knüpfen und seinen Eid entgegenzunehmen, hatte sie sich für die Flucht mit Madhrab entschieden. Wie sehr diese Zurücksetzung an ihm nagte, wurde ihm erst jetzt bewusst, als er ihr Gesicht erblickte. Warum musste es ausgerechnet Madhrab sein? Immer schon war es Madhrab gewesen, der ihm einen Schritt voraus war. Sie hatten zur selben Sonnenwende bei den Bewahrern angefangen. Aber Madhrab war disziplinierter, vernünftiger, mutiger und von Anfang an in allen Belangen einfach besser gewesen, obwohl er nicht den Ehrgeiz des Fürstensohnes besaß und offenbar auch nicht brauchte, um bis ganz nach oben zu gelangen. Die Ausbildung war ihm leichtgefallen, wo andere nahezu verzweifelten. Die Meisterstufen bis zur als unerreichbar geltenden höchsten Stufe erklomm er mühelos und bekam die Macht und den Einfluss, welche Chromlion stets für sich beanspruchen wollte. Chromlion war immerhin der Sohn eines Fürsten, wie konnte er sich von einem einfachen Klan aus einem kleinen Bergdorf ausstechen lassen. Doch es war Madhrab und nicht er, der von den Bewahrern bevorzugt wurde. Der Sohn eines Bauern und Bergführers aus Kalayan wurde schon bald der persönliche Zögling des Overlords und genoss Privilegien und Freiräume, die anderen Bewahrern verwehrt blieben. Schließlich hatten sie Madhrab im Rang eines Lordmasters zum Bewahrer des Nordens ernannt und ihm die Führung über das größte Heer anvertraut, das es auf Ell je gegeben hatte. Das war des Guten zu viel für Chromlion. Der Neid auf den Rivalen aus den eigenen Reihen zerfraß ihn und wurde im Lauf der Zeit immer unerträglicher. Aber er hatte sich für die stets aufs Neue erlittene Schmach gerächt, die Anklage wegen vermeintlicher Verfehlungen mit Inbrunst geführt und Madhrab war tief gestürzt. Tiefer, als er dies am Anfang beabsichtigt hatte. Aber dann hatte er von der Verbindung mit Elischa erfahren, was ihn erneut zutiefst getroffen hatte und sofort die alten Gefühle wieder aufleben ließ. Jetzt war er hier in Eisbergen und hatte sie gefunden. Er war sich sicher, Madhrab konnte nicht weit entfernt sein.
Als Elischa dem Blick des Bewahrers begegnete und die Situation offenbar erfasst hatte, wandte sie sich erschrocken ab. Er sah noch, wie sie mit Alvara tuschelte und entsetzte Blicke tauschte, bevor die beiden Frauen gemeinsam mit eiligen Schritten im Palast verschwanden. Dies war der Augenblick, zu handeln. Sie durfte ihm nicht entkommen und würde den Preis für ihr frevlerisches Verhalten bezahlen müssen.
Chromlion griff an. Wenn es sein musste, würde er jeden zu den Schatten schicken, der sich ihm in den Weg stellte. Kein langes Vorgeplänkel oder Hinauszögern. Er wollte die Überlegenheit eines Bewahrers ausspielen und die Sache möglichst rasch zu Ende bringen. Aber er hatte den Eiskrieger unterschätzt, denn dieser parierte den Angriff mit Leichtigkeit und wich geschickt aus, als hätte er bereits vorher geahnt, wie ein Bewahrer für gewöhnlich vorging, um einen Vorstoß zu eröffnen. Das erwies sich als Überraschung für den Lordmaster, der damit gerechnet hatte, leichtes Spiel zu haben. Der Leibwächter des Fürsten musste ein äußerst fähiger und erfahrener Kämpfer sein, um einen solch raffiniert und schnell vorgetragenen Vorstoß, wie ihn Chromlion gezeigt hatte, mühelos abwehren zu können. Mindestens jedoch musste er einen Bewahrer beim Kampf beobachtet haben und sich dessen Stil und Besonderheiten eingeprägt haben. Anders konnte sich der Lordmaster das Glück des Eiskriegers nicht erklären.
Chromlion drehte sich um die eigene Achse, ließ sich fallen und zielte mit der Axt auf die Beine Baylhards. Doch dieser vollführte einen Sprung und zauberte, noch während er sich mit den Beinen in der Luft befand, von seinem Rücken einen Speer hervor, mit dem er den Bewahrer durchbohren und auf dem Eis festnageln wollte. Beinahe zu spät hatte der Lordmaster die Absicht des Eiskriegers erkannt, sodass er sich erst im allerletzten Moment durch eine Seitwärtsrolle vor dem tödlichen Stoß retten konnte. Chromlion wäre allerdings kein Bewahrer, wenn er sich nicht zu helfen wüsste. Er kämpfte am Boden auf dem Rücken liegend nicht minder gefährlich als stehend. Und dieses Mal nutzte er seinen Vorteil und führte die Axt noch in der Rollbewegung
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