Kuche Totalitar - Wladimir Kaminer
ähnelt aber physiognomisch sehr der alten.
Armenier, Russen, Ukrainer und sogar viele Aserbaidschaner haben die Republik verlassen. Die Eisenbahnverbindungen nach Norden und Westen wurden stillgelegt, die Schienen entfernt, wildes Getreide wächst zwischen den Gleisen, der Auftritt einer Heavy Metal Band ist heute in Baku nur noch schwer vorstellbar. Die aserbaidschanische Küche ist jedoch auch in der postsowjetischen Gastronomie präsent und beliebt geblieben. Besonders im Winter gehen die Leute zum Beispiel im verschneiten Moskau gern zum Aserbaidschaner, vor allem wegen des sehr guten Tees, den man dort in großen Kannen serviert bekommt, mit Weißkirschkonfitüre, die nach wie vor nur am Kaspij richtig eingekocht wird.
Lula Kebap
Einige mögen denken, diese ganzen regionalen Rezepte sind nur ein Spaß für den Magen – aufgegessen und vergessen. Ich aber weiß, dass der Verzehr eines Nationalgerichtes nachhaltige Folgen für das ganze Leben haben kann. Ein Bekannter von mir, den ich auf einer Lesereise durch die neuen Bundesländer kennen lernte, erzählte mir einmal, wie das aserbaidschanische Gericht »Lula Kebap« sein damals anarchisches Studentenleben in die richtige Bahn lenkte.
Zu DDR-Zeiten war er, Leo, im Rahmen eines Studentenaustauschs nach Baku geschickt worden. Er sollte an dem dortigen Öl-Institut wichtige Kenntnisse über Öl-Verarbeitung und ÖlTransport erwerben. Er freute sich sehr darauf. Damals waren die Ausländer in Aserbaidschan wie überall in der Sowjetunion herzlich willkommen. Als junger deutscher Student genoss er bei seinen Kommilitonen großen Respekt, und die Lehrer behandelten ihn mit Nachsicht. Er hatte quasi eine gehobene Stellung am Institut inne, ohne irgendetwas dafür tun zu müssen. Das war Leo nur recht, er sah sich eher als Völkerverständiger, Abenteurer und Mädchenschwarm und nicht als Kreidefresser. Außerdem gab es in der DDR sowieso kein Öl.
Leo führte also ein angenehmes Studentenleben, ging zum Strand, in Restaurants und Diskotheken und dankte Gott und Honecker dafür, dass sie ihm einen solch sonnigen Studienplatz beschert hatten. Nach einem Monat lernte er Leila kennen, ein etwas molliges Mädchen mit schwarzen Haaren und hellbraunen Augen. Sie war gerade mit der Schule fertig geworden, drei Jahre jünger als er und besuchte den Vorbereitungskurs des Öl-Instituts. Trotz mangelnder Sprachkenntnisse beiderseits entwickelte sich zwischen ihnen eine Art Romanze. Leila flirtete gerne mit Leo, er lud sie ins Kino ein, sie lehnte ab unter dem Vorwand, sie habe einen sehr strengen Vater. Wenn der das erführe, würde der deutsche Student noch schneller seinen Kopf verlieren als einst Hadschi Murat. Sie durften aus diesem Grund auch nicht zusammen in der Teekantine sitzen, weil dort Männer saßen, die möglicherweise Leilas Vater kannten. Zum Strand durften sie ebenfalls nicht. Außerdem durfte er sie nie nach Hause begleiten. Also saßen sie oft stundenlang auf einer Bank im kleinen Park hinter dem Institut, schwänzten den Unterricht und küssten sich vorsichtig. Gerade das Abenteuerliche daran erregte Leo sehr. Er fühlte sich wie Romeo im Kaukasus, auf Leben und Tod der Wachsamkeit von Leilas Eltern preisgegeben, die er noch nie gesehen hatte. Dennoch regte er sich über die wilden Sitten auf, die den Mädchen das Ausgehen verboten.
Leila sagte nichts dazu. Eines Tages lud sie ihn zu sich nach Hause ein, zu einem Familienessen. Ihr Vater würde Lula Kebap kochen, und sie wolle die Gelegenheit nutzen, um Leo ihren Eltern vorzustellen. Leo bereitete sich auf eine pädagogische Diskussion mit dem Vater vor, er wollte ihm erklären, dass die Zeiten sich seit dem Mittelalter geändert hatten und die Jugendlichen mehr Freiheit brauchten, um Selbstbewusstsein zu entwickeln. Seitens des Vaters erwartete er alle möglichen Provokationen und machte sich auf alles gefasst.
Leila wohnte in einem großen alten Haus am Rande der Stadt, mit einem hohen Zaun und betoniertem Hof. Genauso hatte sich Leo den Hort der Rückständigkeit vorgestellt. Der Vater entpuppte sich jedoch als ganz sympathischer, freundlicher Mann. Er hieß Leo herzlich willkommen. Beim Essen lernte er die Großfamilie kennen, alles nette, höfliche Menschen: die Mutter Nargis, der Vater Vagis und die Brüder Tofik, Aidim und Elchin. Das Kochen schien hier eine Sache der Männer zu sein. Alle saßen an einem großen Tisch. Der Vater formte aus dem gehackten Fleisch kleine Bällchen, briet sie in der
Weitere Kostenlose Bücher