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Kuche Totalitar - Wladimir Kaminer

Titel: Kuche Totalitar - Wladimir Kaminer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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heimischen Reiseziele inzwischen verpönt, sie bevorzugen die Kanarischen Inseln oder fliegen nach Ägypten und Tunesien zum supergünstigen Russentarif, statt in Sibirien die dicken Mücken zu ernähren. Also tummeln sich rund um den Baikalsee hauptsächlich ausländische Reisegruppen, Amerikaner, Holländer und vor allem Deutsche. Eine solche Gruppe, die mehrheitlich aus älteren Leuten bestand und deutlich leichtsinnig ausgerüstet war, trafen meine Freunde mitten in der Taiga.
    »Da sind welche aus Stalingrad, die nicht mitbekommen haben, dass der Krieg zu Ende ist, und die noch immer nach einem Ausweg aus dem Kessel suchen«, witzelte ihr russischer Reiseleiter. Zusammen wollten sie die Fremden mit einem unverschämten »Hände hoch! Hitler kaputt!« erschrecken. Die Deutschen bemerkten sie aber zuerst. Es war eine Reisegruppe aus Bayern, die sich tatsächlich ein wenig verlaufen hatte und müde, aber fasziniert von der Schönheit des Landes war.
    »Wir kommen jedes Jahr hierher«, erzählten die Deutschen. Meine Freunde, die gern durch Kalifornien oder Indien ziehen würden, konnten eine solch innige Taiga-Liebe nicht nachvollziehen. Auch ich konnte es ihnen nicht wirklich erklären. Sibirien hatte lange Zeit in der deutschen Geschichte eine geradezu mythische Rolle gespielt. Mal war es das Paradies und mal die Hölle. Die russischen Zaren wollten diese an Bodenschätzen überaus reiche, aber kaum bewohnte Region mit guten, fleißigen Arbeitnehmern besiedeln. Die sibirische Urbevölkerung war großenteils nomadisch und schamanistisch, das heißt für große Bau- und Schürfvorhaben nicht zu haben. Sie betete viele Götter an und hatte dementsprechend jede Menge zu tun. Allein der burjatische Hauptgott vom Baikalsee, Burchan, will als Gabe jeden Tag irgendetwas Weißes bekommen, am liebsten Milch.
    Den Russen diente Sibirien lange Zeit als Zufluchtsort – es bot jede Menge Möglichkeiten, sich der Staatsgewalt zu entziehen. Soldaten, die aus der Armee geflohen waren, oder Andersgläubige, die von der orthodoxen Kirche schikaniert wurden, Kosaken, die autonom leben wollten, oder Beamte, die die Staatskasse verspielt beziehungsweise erleichtert hatten, mit einem Wort: Alle, die nicht wussten, wohin, setzten sich in die Taiga ab. Diese Leute eroberten zwar Stück für Stück das Land, aber auch sie waren keine brauchbaren Arbeitnehmer. Mit großzügigen Landgeschenken und Prämien lockten die russischen Herrscher deswegen immer wieder Deutsche nach Sibirien. Sie brauchten loyale Bürger, die mit dem staatlichen Eigentum genauso behutsam umgingen wie mit ihrem eigenen.
    Der letzte Ministerpräsident Stolypin warb bis zur Revolution deutsche Gastarbeiter an. Die Regierung übernahm alle Umzugskosten, und jede Familie bekam fünfzehn Hektar Land vom Zaren geschenkt. Das war für viele Deutsche verlockend. Über hundert Dörfer entstanden so in der Taiga. Die Deutschen erwiesen sich als fleißig und ließen sich von den Mücken nicht entmutigen. Wenn sie reich geworden waren, wollten sie allerdings mit ihrem ganzen Hab und Gut wieder zurück nach Deutschland. Das ging gegen die Pläne der russischen Regierung. Mit allen Mitteln versuchte sie, die Deutschen in Sibiren zu halten.
    Und so entstand eine Art Tradition: Ob Weltkrieg oder Revolution, hinterher landeten sofort haufenweise Deutsche in Sibirien. Kriegsgefangene und Kriegsverweigerer, Kommunisten oder Antikommunisten, Russlands Freunde und Russlands Feinde, sie alle fanden sich im sibirischen Schnee wieder, bauten dort Eisenbahntrassen, holten Rohstoffe aus der Erde, errichteten Fabriken und schrieben die Geschichte der Eroberung Sibiriens fort. Zu manchen Zeiten gab es in Sibirien mehr Deutsche als Burjaten, die aber ihr Leben in Sibirien im Gegensatz zu vielen Deutschen nicht als Zumutung empfanden. Sie schmückten ihre buddhistischen Dazan-Hütten mit bunten Stoffen und gossen fleißig weiter Milch in den Baikal zu Ehren von Burchan, der sich dafür regelmäßig mit gutem Wetter bedankte.
    Das Märchen vom guten Leben in Sibirien hat sich im Bewusstsein der Deutschen mit den Geschichten über die grausamen Sibirienzwangsaufenthalte der Nachkriegszeiten vermischt. Als Helmut Kohl Boris Jelzin in Sibirien besuchte, saßen sie zusammen in einer Sauna am Baikalsee.
»Wir Russen«, prahlte Jelzin, »lieben es, nach dem Schwitzen in ein Eisloch zu springen.«
    Kohl sprang daraufhin sofort auf und ließ sich, ohne mit der Wimper zu zucken, in das eiskalte Wasser des

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