Kuche Totalitar - Wladimir Kaminer
Flagge zum Roten Platz marschiert. Auf dem Rücken seiner Jacke stand »Lasst uns los nach Israel«. Diesmal hatte er eine ähnliche Aktion im Sinn. Katzman schlug vor, dass wir uns in die offiziellen Arbeiterkolonnen einschleichen sollten, er mit einem Hammer und ich mit einer Sichel, um die Kommunisten zu verunsichern. Ich besaß jedoch keine Sichel und wusste auch nicht, wo man eine herbekam. Es gab in Moskau keine Geschäfte, die Sicheln verkauften. Einen Hammer gab es dagegen in jedem Haushalt, ebenso Nadeln und Scheren. Aber keine Sicheln.
»Dann nehmen wir eben beide einen Hammer.« Katzman ließ
sich nur schwer von seinen Ideen abbringen.
Mit großer Mühe gelang es mir, meinem Freund seinen Terrorplan auszureden. Dafür musste ich ihn jedoch zu der Demo begleiten, ohne alles, einfach nur zum Schauen. Wir gingen aus dem Haus, am Weißrussischen Bahnhof vorbei in Richtung Roter Platz. Die Sicherheitsvorkehrungen waren gewaltig. Die halbe Stadt war abgesperrt. Überall standen Polizisten, Offiziere, Ordnungshüter mit und ohne Uniform, nur mit einem roten Banner auf dem Ärmel. Vor dem Bahnhof bildete die berittene Polizei eine Art Korridor, und wer in die U-Bahn wollte, musste zwischen einer Reihe von Pferden hindurch. Wir wurden von den Massen der Arbeiter in diesen Korridor hineingezogen. Obwohl wir uns friedlich benahmen, merkten die Pferde sofort, dass an uns etwas faul war. Sie wurden unruhig.
»Schau ihnen nicht in die Augen, sie mögen das nicht«, sagte ich noch zu meinem Freund, aber da war es bereits zu spät. Völlig unvermittelt spuckte das eine Pferd Katzman ins Gesicht. Der Polizist, der auf dem Pferd saß, lächelte nur milde. Er entschuldigte sich nicht einmal für sein Tier. Für uns kam diese Attacke völlig überraschend. Wir wussten nur von Kamelen, dass sie spucken konnten, aber selbst das hatten wir bisher nur im Fernsehen gesehen. Katzman konnte eine solche Demütigung nicht ohne weiteres akzeptieren. Er spuckte zurück. Das Pferd bäumte sich auf, und der Polizist rutschte seitlich herunter. Mit einem Wort: Es wäre besser gewesen, wir hätten doch Hammer und Sichel dabeigehabt. Erst spät am Abend wurden wir auf dem Polizeirevier wieder freigelassen. Der für uns zuständige Beamte drohte uns mit dem sofortigen Vollzug der Todesstrafe, wenn man uns noch einmal an irgendeinem Ort in Moskau erwischen würde, an dem sich andere Menschen, Tiere, Polizisten, Vögel oder Reptilien aufhielten. Wir fühlten uns von der Gesellschaft ausgestoßen. Andererseits hatten wir sowieso schon lange vor, auf Reisen zu gehen. Diese kleine Auseinandersetzung mit dem Pferd war der letzte Anstoß, der uns half, unsere schon lange geplante Reise an die Wolga anzutreten. In zwanzig Tagen besuchten wir acht Städte und fuhren bis nach Astrachan und zurück.
Unter anderem stiegen wir in Kasan aus. Am Ufer verkauften Kinder und Rentner getrocknete Fische. Im Zentrum liefen die Bewohner in grünen Hauspantoffeln über die Straße, auf den Bänken saßen Omas und kauten Sonnenblumenkerne. Quer über die öffentlichen Straßen hing überall private Bettwäsche zum Trocknen. Die Bettlaken der Bevölkerung verdeckten den wenigen vorbeifahrenden Autos die Sicht. Außer Bettwäsche hingen auch einige rote Banner über den Straßen, ein paar Leninporträts sowie Transparente mit für uns unverständlichen Sprüchen. Die Buchstaben waren wie die unseren, aber zusammengesetzt ergaben die Sätze keinen Sinn. »Lenin bene, lenin mene, lenin tirdildik« oder so ähnlich.
»Die Kommunisten haben den Tataren ihr Latein ausgetrieben und sie gezwungen, sich in kyrillischen Buchstaben auszudrükken!«, erklärte mir Katzman.
Als Erstes durchkämmten wir Kasan auf der Suche nach etwas Essbarem. In den Geschäften, die wir besuchten, gab es jedoch nur Streichhölzer, selten Mineralwasser, grüne Pantoffeln und Zigaretten der Marke »Prima«. Unsere letzte Hoffnung war Marat, ein alter Freund aus Kasan, den wir vor Jahren in Moskau kennen gelernt hatten. Wir kannten jedoch seine Anschrift nicht. Aber Kasan war niedlich: Man konnte dort jeden nach jedem fragen. Nachdem wir einigen Leuten unseren Freund beschrieben hatten, wurde uns sofort sein Haus gezeigt.
Marat war ein kleiner, sehr beweglicher Mann mit einem langen Bart; er wirkte ein wenig wie ein fliegender Shaolin-Mönch aus alten chinesischen Filmen. Marat wohnte in einer Zwei-ZimmerWohnung mit seiner Frau, die gerade nach Moskau zum Einkaufen gefahren war, und drei
Weitere Kostenlose Bücher