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Kuckucksmädchen

Kuckucksmädchen

Titel: Kuckucksmädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Lohmann
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aufnehmen konnte.
    Aber dann hatte er sich doch seinen Rucksack geschnappt und war aus dem Hauptbahnhof gelaufen, um sich wenigstens den Dom anzusehen und »einen Blick auf die kölschen Mädchen« zu werfen, wie er sagte, und das hatte ja auch beides geklappt. Da saß ich und hatte auf ihn gewartet, auf der letzten Station einer monatelangen Reise, von der er gedacht hatte, sie sei so gut wie vorbei.
    Wir hockten in der Sonne und redeten, gingen runter zum Rheinufer und redeten, standen am Wasser und redeten. Dann tranken wir ein Kölsch im Früh und schwiegen, während wir den anderen beim Reden zusahen. Dabei verpassten wir einen Zug nach dem anderen. Aber Clemens hatte ein Interrailticket und noch ein paar freie Tage vor sich, und als es Abend war, nahm ich ihn mit nach Hause. Ich erinnere mich an den skeptischen Blick meiner Mutter, die sich am Abendbrottisch fragte, ob Clemens ein lustiger Wandergeselle oder ein blutrünstiger Mädchenmörder war. Aber ich war neunzehn und kurz davor auszuziehen, und so nahm sie es hin in dem Wissen, demnächst sowieso die Kontrolle abgeben zu müssen.
    Wir schliefen nicht miteinander in dieser Nacht, wir lagen in meinem Bett und redeten. Es gab weder suchende Hände noch einen einzigen Kuss, nur unsere Unterarme, die sich an einem millimeterkleinen Punkt berührten. Ich erinnere mich noch heute, wie sich die feinen Haare an meinen Armen aufstellten und kleine brennende Funken zwischen unserer Haut hin und her sprangen. Wir redeten und gestikulierten und lachten und schliefen zwischendurch ein und wachten wieder auf und sprachen weiter, und das Einzige, worauf wir beide peinlichst genau achteten, war, dass der Abstand zwischen unseren Armen nicht einen Millimeter größer wurde. Clemens war der erste Mann in meinem Leben, den ich nicht verlassen habe. Vielleicht ist mein Herz deswegen nicht kalt geblieben, als es ihn auf der Liste entdeckt hat.
    Â»Hallo, Papa.«
    Meinen Vater anzurufen kostet Überwindung, aber ich bekomme es hin. Das ist immerhin mehr, als ich bezüglich Jonathan behaupten kann.
    Â»Wanda, na endlich. Ich hab mir schon Sorgen gemacht.«
    Â»Ich weiß. Ich hatte viel zu tun.«
    Â»Kann ich mir vorstellen. Und?«
    Â»Die gute Nachricht ist: Ich bin fertig. Die Wohnung ist leer.«
    Mein Vater atmet am anderen Ende der Leitung aus und traut sich nicht, sich zu freuen. Ich kann ihn schlucken hören.
    Â»Danke, Wanda.«
    Â»Ich hab’s gern gemacht, Papa. Hier liegen jetzt nur noch ein paar Fotoalben, von denen ich dachte, du möchtest sie vielleicht behalten …«
    Â»Und die schlechte?«
    Â»Die schlechte was?! «
    Â»Du hast gesagt, das war die gute Nachricht. Was ist denn dann die schlechte?«
    Die schlechte Nachricht ist, dass deine Tochter eine egoistische, unentschlossene Kuh ist, die es nicht ertragen kann, einfach mal glücklich zu sein.
    Ich lehne mich an die Wand und versuche, ruhig zu atmen.
    Â»Die schlechte Nachricht ist«, sage ich tapfer, »dass du dich jetzt eventuell nach neuen Mietern umsehen musst.«
    Â»Wieso das denn? Gefällt Jonathan die Wohnung nicht?«
    Irgendwas hinten in meiner Kehle tut mit einem Schlag verdammt weh.
    Â»Doch. Das Ding ist nur, dass ich ihm vielleicht nicht mehr gefalle.«
    Es fühlt sich an, als hätte ich eine Distel im Hals. Ich schlucke ein paarmal, aber es wird nicht besser. Eher schlimmer.
    Â»Ach du Scheiße. Was ist denn passiert, meine Kleine?«
    Die Distel verschwindet genau in dem Moment, in dem die Tränen kommen. Ich will sie zurückhalten, aber es funktioniert nicht: Meine Augen sind so wässrig, dass die vielen Tränen keinen Platz mehr darin haben. Wie kleine Selbstmörder springen sie aus den überfüllten Augen und rennen rasend schnell mein Gesicht runter, bevor ihnen die nächsten folgen. Es werden immer mehr.
    Â»Papa, ich …«
    Sie sammeln sich am Unterkiefer, wo sie eine Weile warten, bis genug von ihnen angekommen sind. Dann lassen sich die Selbstmördertränen in dicken Tropfen von meinem Gesicht fallen und klatschen vor mir auf den Parkettboden.
    Â»Ich muss auflegen«, schaffe ich gerade noch zu sagen. Plötzlich höre ich mich laut aufheulen und spüre die Knie nachgeben. Mein Rücken rutscht an der Wand entlang nach unten, das Telefon schlittert in eine Ecke. Und dann lasse ich mich neben meine Tränen aufs Parkett fallen.
    Clemens wohnt noch

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