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Kuckucksmädchen

Kuckucksmädchen

Titel: Kuckucksmädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Lohmann
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St. Pauli bei Tag. Sie treffen nicht die übrig gebliebenen, im Rausch umherirrenden Russen auf der Suche nach Kokain, sie riechen nicht den Pissgestank, der einem in jedem Hauseingang in die Nase steigt, und wissen nichts von den riesigen Müllbergen aus leeren Flaschen, Zigarettenkippen und Pizzakartons, die sie hinterlassen haben. Was sie allerdings auch nicht wissen, ist, dass auch Frauen einen Blick in die Herbertstraße werfen können, wenn morgens die Müllmänner das große rote Tor öffnen, um mit ihrem Wagen den Dreck der letzten Nacht wegzuspülen. Sie hören nicht, wie der Hafen zum dumpfen Klang der gegeneinanderschlagenden Container zum Leben erwacht. Und sie haben keine Ahnung von den kleinen Seitenstraßen, gemütlichen Cafés und versteckten Grünflächen, in die sich die Anwohner zurückziehen, während sie versuchen, neben den Touristenhorden in St. Pauli einen ganz normalen Alltag zu führen.
    In einem dieser Cafés sitze ich gerade, eine halbe Stunde zu früh, an einem schlichten braunen Holztisch, und warte auf Jonathan. Am Telefon hat er gesagt, es sei meine letzte Chance. Das Herz und ich wurden sofort ganz hibbelig und aufgeregt und wollten unsere letzte Chance am liebsten sofort nutzen, aber Jonathan meinte, er habe keine Lust mehr, für uns zu springen, wir würden uns bis zum nächsten Nachmittag gedulden müssen. Das Herz sagte brav Ja und Amen und fuhr heute Vormittag mit mir in die alte Wohnung.
    Eine blasse, rot gelockte Kellnerin kommt an meinen Tisch und begrüßt mich beiläufig und freundlich, als wäre heute ein ganz normaler Tag. Aber um ihren Hals baumelt eine lange Kette mit einem winzigen Vögelchen in einem goldenen Käfig. Aus lauter Verwirrung bestelle ich einen Jasmintee. Noch siebenundzwanzig Minuten.
    Die Wohnung war komplett leer. Vor dem Haus stand ein großer Container, voll mit zerschredderten Einbauschränken, die Jungs hatten ganze Arbeit geleistet. Nur der moosgrüne Teppichfußboden lag noch da. Ihn von den Dielen zu lösen war erstaunlich einfach. Ich musste nicht viel Kraft aufwenden, und trotzdem dauerte es lang. Denn meine Großeltern haben Teppich geliebt und ihn nicht nur auf den gesamten Fußboden gelegt, sondern auch Abstellkammern damit ausgekleidet und teilweise sogar die Wände hochgeklebt. Die Dielen, die darunter zum Vorschein kamen, waren so gut erhalten, dass jeder Großstädter seinen kleinen Finger dafür gegeben hätte. Ich konnte schon jetzt den Glanz in den Augen unserer Pärchenfreunde sehen: Sooo schöööne alte Dielen, da habt ihr aber Glück gehabt, andere würden ein Vermööögen dafür zahlen! Geschliffene Dielenböden sind das »Eiche rustikal« meiner Generation.
    Wider Erwarten fand ich kein einziges Bernsteinhaar meiner Großmutter in den Kleberesten, sondern riss mir stattdessen selbst zwei Fingernägel ab. Die Teppichrollen in den Container zu bugsieren war schwieriger, als ich mir das vorgestellt hatte. Ich schwitzte und fluchte und verlor einen weiteren Fingernagel, aber irgendwann war der Teppich im Container und die Wohnung leer. Sehr leer. Das Leben meiner Großeltern war aus ihr herausgelöscht, und nun stand sie da und wartete auf ihre neue Geschichte.
    Noch zweiundzwanzig Minuten.
    â€“Was soll denn diese Minutenzählerei?
    â€“Hallo, Herz. Du auch hier?
    â€“Lenk nicht ab. Warum zählst du die Minuten?
    â€“Keine Ahnung. Vielleicht weil es meine letzten in Freiheit sind?
    Ich schaue zum fünften Mal auf die Uhr. Noch einundzwanzig Minuten.
    â€“Du spinnst wohl. Du willst doch jetzt nicht wieder abhauen!
    â€“Ich …
    â€“Ich sag dir eins, Kuckucksmädchen: Wenn du jetzt gehst, brauchst du nicht wiederzukommen. Dann wollen weder Jonathan noch ich mehr irgendetwas mit dir zu tun haben.
    â€“Hey, keine leeren Drohungen!, scherze ich. Außerdem bin ich doch noch hier. Siehst du, ich ziehe mir sogar die Jacke aus.
    â€“…
    â€“Warum sagst du nichts mehr?
    â€“…
    â€“Bitte, sag doch was!
    â€“…
    Die rothaarige Kellnerin bringt den Tee und befiehlt mir, ihn acht Minuten ziehen zu lassen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich noch so viel Zeit habe, Kleines.
    Noch neunzehn Minuten.
    Jonathan kommt normalerweise mindestens fünfzehn Minuten zu spät. In diesem Fall hätte ich noch vierunddreißig Minuten. Vierunddreißig Minuten, in denen noch

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