Kuckucksmädchen
immer in Lüneburg, sagt Facebook. AuÃerdem sagt Facebook, dass er selbstständig und von zu Hause aus arbeitet und dass er eine Freundin hat, die Mila heiÃt und blond ist und immer glücklich, glaubt man den online gestellten Fotos. Google zeigt mir Clemensâ Internetseite und mithilfe von Google Maps dazu, wie sein Haus aussieht. Und während ich so vor mich hinstalke, sehe ich, wie Clemens in seiner neuesten Statusmeldung postet, dass sein Fahrrad gerade einen Platten hat.
Mit dem Metronom fährt man von Hamburg nach Lüneburg ein bisschen länger als dreiÃig Minuten, und wenn man dann den Bus Richtung Leuphana-Universität nimmt, steht man in insgesamt weniger als einer Stunde vor Clemensâ Haus.
Es sieht genauso aus, wie Google Maps es gesagt hat. Ein kleines, weiÃ-braunes Fachwerkhaus mit putzigen Fenstern und windschiefem Dach. Neben dem Haus steht ein winziger Schuppen, und an dem Schuppen lehnt ein Fahrrad mit Platten. Ganz ehrlich, ich verstehe nicht, wofür ich überhaupt noch eine Realität brauche, denke ich, und will mich gerade umdrehen und nach Hause gehen, da öffnet sich die Tür. Heraus kommt eine blonde Frau, und im Gegensatz zu den von Clemens online gestellten Fotos sieht sie momentan überhaupt nicht glücklich aus. Sie trägt eine Jogginghose, ein eng anliegendes T-Shirt und einen dicken Schal, was nicht zum Wetter passt, aber sehr gemütlich sein muss. Aus der Tatsache, dass sie die Tür hinter sich abschlieÃt, folgere ich, dass Clemens nicht zu Hause ist. Auch gut, denke ich und will mich zum zweiten Mal umdrehen und gehen. Aber in dem Moment, in dem die Frau an mir vorbeiläuft und mir einen kurzen Blick zuwirft, gibt mir das Herz einen StoÃ, und dabei fallen mir zwei Worte aus dem Mund.
»Hallo, Mila«, sage ich, und die Frau dreht sich um und lächelt verunsichert. Sie kommt zurück und fragt, ob wir uns kennen.
»Nein«, antworte ich, »ich bin eine ehemalige Freundin von Clemens« und frage, ob er gerade nicht zu Hause ist. Eins-a-Vorstellung, Wanda. Die Herausforderung Wie-schaffe-ich-es-mich-in-nur-fünf-Sekunden-hassen-zu-lassen habe ich mit Bravour gemeistert.
Aber Mila hasst mich nicht. Sie schaut mich eine Weile an und lächelt dann irgendwie nachsichtig und sagt: »Clemens ist nicht da. Er hat einen Termin in Hamburg.«
Ach. Davon hatte Facebook gar nichts gesagt.
»Kann ich dir vielleicht irgendwie weiterhelfen?«, fragt mich Mila.
»Alles gut«, sage ich, schüttle den Kopf und will zum dritten Mal gehen.
Aber sie lässt sich nicht abwimmeln. »Also, als mir das letzte Mal die Wimperntusche so das Gesicht runtergelaufen ist, habe ich besser gelogen als du.«
Ich wische mir über die Wangen. Schwarze Schlieren bleiben an meinen Handinnenflächen kleben. Ich habe die ganze Zeit weitergeweint, ohne es zu merken.
Mila holt den Schlüssel aus der Jogginghose und geht zurück Richtung Haustür. »Ich mach uns ânen Kaffee.«
Jetzt zum vierten Mal versuchen zu gehen wäre wirklich unhöflich. Also revanchiere ich mich bei meinem Herzen und gebe ihm einen StoÃ, und gemeinsam stolpern wir über die Schwelle in das niedliche Fachwerkhaus von Mila und Clemens.
Die Küche, die sich mit dem Wohnzimmer über das gesamte Erdgeschoss erstreckt, ist bemerkenswert leer. Am Fenster steht ein groÃer Holztisch mit nur zwei mickrigen Klappstühlen aus Plastik. An der Wand eine Spüle und ein paar Küchenschränke, aber auch mindestens zehn Kartons, deren Ãffnung auf die Seite gedreht wurde, sodass sie jetzt als Regale dienen. An der Decke eine Papiertüte statt einer Lampe. Die nackten Wände werden nur von ein paar Lichterketten geschmückt. Das ganze Zimmer ist ein einziges Provisorium, wirkt aber aufgeräumt und vielleicht deswegen trotzdem gemütlich.
Mila bemerkt meinen Blick und lacht. »Wir wohnen eigentlich schon seit einem Jahr hier. Aber irgendwie kommen wir zu nichts. Und ich habe in den letzten Jahren gelernt, dass es Wichtigeres gibt als eine fertige Wohnungseinrichtung. Perfektionismus macht nicht glücklich, jedenfalls nicht mich.«
Ich muss an die Orte denken, an die mich meine Liste in den letzten Wochen geführt hat. An die von mir eingerichtete Wohnung, in der Phillip und Larissa jetzt leben. An das Bullerbü-Zuhause von Max und Anouk. Und an das alte, schattige Haus voller Bücher von Ilyas
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