Küchenfee
ihr wollte im ersten Moment partout nicht einfallen, woher.
»Lilli?«, wiederholte die Frau am Telefon. »Ich bin’s, Vanessa. Ich brauche unbedingt deine Hilfe.«
Lilli war unfähig, irgendetwas zu sagen.
»Hallo? Bist du noch dran?«
»Ja«, antwortete Lilli automatisch.
Vanessa fasste das als Aufforderung auf, mit ihrem Anliegen fortzufahren. »Also, Lilli, ich bin so froh, dass ich dich sofort erwische. Ich habe ein Riesenproblem. Monsieur Pierre hatte vor ein paar Tagen einen Bandscheibenvorfall und fällt noch für mindestens drei Wochen in meiner Küche aus. Er liegt zu Hause flach und kann kaum laufen. Und er hat mir vorgeschlagen, ich könnte dich doch mal fragen, ob du Lust hast, im Camelot auszuhelfen. Du, ich halte das für eine wunderbare Idee! Du kennst dich schließlich hier aus, und ich müsste nicht mühsam nach jemandem suchen, der erst angelernt werden muss. Wer sollte das auch machen? Und außerdem, ich habe bald eine große Veranstaltung. Ich müsste sonst absagen, du verstehst?« Vanessa hielt inne. »Lilli? Du sagst ja gar nichts? Du kannst mir jeden Preis nennen.«
»Zehntausend Euro. Pro Woche«, sagte Lilli kalt.
»Du spinnst wohl. Das ist absurd!«
»Absurd ist, dass du hier anrufst, Vanessa. Stell dich doch selber in deine Scheißküche oder ruf den Pizzaservice. Interessiert mich nicht. Und jetzt entschuldigst du mich. Ich habe zu tun. Eine große Veranstaltung, du verstehst?« Lilli beendete das Gespräch und ließ den Apparat auf den Tisch fallen. Während des Telefonats war sie ruhig geblieben, aber jetzt reagierte ihr Körper. Schlagartig war sie schweißgebadet.
Wut stieg in ihr hoch, nicht auf Vanessa, sondern auf Monsieur Pierre. Dass Vanessa keinerlei moralische Prinzipien hatte und nur auf ihren Vorteil bedacht war, wusste sie schließlich aus eigener Erfahrung. Aber dass ausgerechnet Monsieur Pierre derart wenig Skrupel und Takt besaß, sie als Ersatz für die Küche des Camelot vorzuschlagen, machte sie so zornig, dass sie handeln musste. Sie griff nach dem Telefon und wählte Ginas Nummer. Nach dem zweiten Klingeln ging Gina an den Apparat und rief: »Tusch! Lass mich raten: Dir ist endlich eingefallen, was wir für die Beckmanns kochen, stimmt’s?«
»Ist es nicht. Das ist mir aber auch momentan völlig egal.«
»Wieso? Hat Frau Beckmann abgesagt und uns erlöst? Und wie hörst du dich überhaupt an?«
»Gina, bitte komm vorbei. Wir fahren zu Monsieur Pierre.«
Gina prustete. »Glaubst du, der kann uns helfen? Bist du mit deinem Latein am Ende?«
»Erzähl ich dir alles, wenn du hier bist. Bitte!«
Eine halbe Stunde später waren sie auf dem Weg zu Monsieur Pierres Wohnung; die Adresse hatten sie aus dem Telefonbuch. Gemeinsam schwelgten sie in Fantasien, wie sie den Chefkoch für seinen Verrat an Lilli büßen lassen würden. Ihre Rache würde blutig und qualvoll sein, darin waren sie sich einig.
Monsieur Pierre wohnte in einem verwahrlost aussehenden Altbau. Auf jedes Klingelschild waren mindestens zwei Namen gekritzelt, nur seines, das dritte von unten, war ordentlich mit »P. A. Meisenheimer« beschriftet. Die Haustür stand sperrangelweit offen. Im Hausflur drängten sich etliche Fahrräder und zwei Kinderwägen.
»Auf geht’s, Gina, erster Stock, schätze ich.«
Die beiden rannten die Treppe hoch.
Zwei Wohnungstüren mit kleinen, im Quadrat angeordneten Riffelglasfenstern standen im ersten Obergeschoss zur Auswahl, die linke in vergilbtem Weiß, staubig und mit zerkratzten Aufklebern bedeckt, die rechte peinlich sauber, in hochglänzendem, dunkelgrünem Lack gestrichen und mit einem gravierten Metallschild versehen.
Lilli und Gina sahen sich an.
»Ich nehme noch Wetten an, hinter welcher Tür unser kleiner Pedant wohnt«, grinste Gina.
»Nicht nötig«, sagte Lilli und lehnte sich mit der Hand gegen den Klingelknopf. Ein durchdringendes Schellen erklang, ein einziger, schriller Ton. Nichts rührte sich hinter der Tür. Lilli begann, im Stakkato gegen den Knopf zu schlagen.
»Machen Sie auf, Meisenheimer!«, rief sie und ließ die Klingel los, um zu lauschen. »Wir wissen, dass Sie da sind!«
Aus der Wohnung war eine klägliche Stimme zu hören. »Ich kann nicht aufstehen. Der Schlüssel liegt unter der Matte. Wer ist denn da?«
»Werden Sie schon sehen!«, schrie Lilli, bückte sich und hob die dunkelrote Kokosfußmatte mit der goldenen Aufschrift »Carpe Diem« hoch.
Darunter lag ein beeindruckend großer, altertümlicher
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