Kuehler Grund
auf Daniel Vernon keinen Eindruck gemacht hätte. Er war der gleiche dunkle, korpulente Typ wie sein Vater, aber im Gegensatz zu Graham Vernon, der in der Regel höflich war und, zumindest nach außen hin, geradezu charmant sein konnte, war der Sohn mürrisch und aufbrausend. Daniel trug ein weißes T-Shirt mit dem Namen einer Rockgruppe, von der Sheila Kelk noch nie etwas gehört hatte. Unter den Achseln und am Rücken war es durchgeschwitzt. Sie vermutete, dass Daniel von Devon aus per Anhalter gefahren und dann das letzte Stück von der Hauptstraße zu Fuß heraufgekommen war.
»Wo ist meine Mutter?« fragte er.
»Sie wurde ins Bett gebracht und ist bisher nicht aufgestanden«, sagte Sheila.
»Und die Gorillas, die durch unser Haus trampeln, sind Polizisten, vermute ich?«
»Sie sehen sich Lauras Zimmer an.«
»Wozu denn das, um Himmel willen? Was suchen sie da?«
»Das verraten sie mir doch nicht«, sagte Sheila.
Das Telefon fing wieder an zu klingeln, Daniel ging automatisch hinüber und nahm nach dem zweiten Läuten ab.
»Nein, hier ist Daniel Vernon. Mit wem spreche ich?« Ungeduldig hörte er einen Augenblick zu. »Ihr Name sagt mir nichts, aber ich nehme an, Sie sind ein Geschäftsfreund meines Vaters, ja? Dann können Sie mich mal.«
Daniel knallte den Hörer auf die Gabel und starrte Sheila finster an.
»Das wird Ihrem Vater aber gar nicht gefallen«, sagte sie erschrocken.
Er marschierte wütend auf sie zu; sie wich vor ihm zurück und zog den Staubsauger mit sich weiter, sodass er immer zwischen ihnen blieb, wie ein Hocker im Käfig eines Löwenbändigers.
»Mein Vater«, sagte Daniel knurrend, »kann mich ebenfalls mal.«
Tailby beobachtete Graham Vernon genau. Er stellte ihm kaum Fragen, sondern verließ sich darauf, dass sein Schweigen den anderen zum Reden veranlassen würde.
»In unserer Familie stehen sich alle sehr nahe«, sagte Vernon. »Meine Frau und ich haben ein enges Verhältnis zu unseren Kindern. Sonst gehen sie ja meistens ab der Pubertät ihre eigenen Wege und nabeln sich ab.«
Tailby nickte verständnisvoll, wie ein Vater, der genau wusste, was man mit Teenagern durchmachte. Seine eigenen Kinder hatten sich allerdings nicht nur abgenabelt, sondern geradezu fluchtartig das Haus verlassen.
»Charlotte und ich, wir haben … wir hatten ein gutes Verhältnis zu Laura. Wir haben uns für ihre schulischen Aktivitäten interessiert, für ihre Freunde, ihre Musik und ihre Reiterei. Und sie hat sich dafür interessiert, was wir machten. Es gibt sicher nicht viele Familien, in denen so ein gutes Klima herrscht. Laura hat mich immer gefragt, wie es in der Firma lief. Sie hat sich nach den Leuten erkundigt, die sie kennen gelernt hat. Damit meine ich meine Geschäftsfreunde. Sie war so intelligent. Sie hat immer gleich erkannt, wer wichtig war, ohne dass ich es ihr sagen musste. Erstaunlich.«
»Sie hat Ihre Geschäftsfreunde hier kennen gelernt?«, fragte Tailby. »Bei Ihnen zu Hause?«
»O ja. Ich habe gern Gäste, und Charlotte auch. Das ist uns beiden wichtig. Man muss seine Kunden richtig zu behandeln wissen. Im Grunde geht es darum, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Ein schönes Haus, ein gutes Essen, eine erstklassige Flasche Wein – oder auch zwei. Dazu eine normale glückliche Familie. Glauben Sie mir, das macht Eindruck auf die Kunden. Das ist der Schlüssel zu langfristigem Erfolg.«
»Natürlich.« Tailby fragte sich, an welcher Stelle die glückliche Familie in die Aufzählung passte. Irgendwo zwischen dem Bordeaux und dem Beef Wellington?
»Und Ihr Sohn, Mr. Vernon?«
»Daniel? Was ist mit ihm?«
»Gehörte er auch … Ich meine, hat er Ihre Kunden ebenfalls kennen gelernt, wenn sie bei Ihnen zu Gast waren?«
»Den einen oder anderen.« Vernon stand auf und schenkte sich noch einen Whisky ein. Er verzichtete darauf, dem Beamten ein Glas anzubieten, da dieser das Angebot bereits einmal abgelehnt hatte.
Tailby war aufgefallen, dass Vernon sowohl im Arbeits- als auch im Wohnzimmer eine Bar hatte und im Esszimmer sicher auch. Allerdings bezeichnete er den Raum nicht als Arbeitszimmer, sondern als Büro, und genauso sah er auch aus – Computer, Laserdrucker, Faxgerät, Telefon und ein Bücherschrank, der voll war mit Präsentationsmappen in geschmackvollem Dunkelblau mit goldenen Lettern. Durch die hohen Schiebefenster hatte man einen hervorragenden Blick auf den Garten, bis hinunter zu der Nadelbaumallee und den dahinter liegenden felsigen Gipfel
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