Kuehler Grund
unbestimmtes Gefühl der Beklommenheit wach, überlagert von den anderen dumpfen, nagenden Ängsten, die ihn quälten und an die er kaum zu denken wagte, die jeden Augenblick hervorbrechen konnten, um ihm den festen Boden unter den Füßen wegzuziehen.
»Außerdem wurde die Tatwaffe bis jetzt noch nicht gefunden«, fuhr Tailby fort. »Die Art der Verletzungen deutet auf einen harten, stumpfen Gegenstand hin. Die Spurensicherung ist noch am Tatort und setzt die Suche fort. Geben wir also die Hoffnung nicht auf. An dem Turnschuh wurden Fingerabdrücke von zwei verschiedenen Personen festgestellt. Leider stammen sie lediglich vom Opfer selbst und von Mr. Dickinson, dem zu Vergleichszwecken Abdrücke abgenommen wurden. Eine viel versprechende Spur haben wir allerdings noch. Damit meine ich die mutmaßlichen Bissspuren am Oberschenkel des Opfers. Zurzeit warten wir auf das Gutachten eines odontologischen Sachverständigen. Wenn es uns gelingt, einen Abdruck zu bekommen, können wir ihn später mit dem Gebiss des möglichen Täters vergleichen.«
Die Beamten tuschelten miteinander. Es wurde gerätselt, was wohl ein odontologischer Sachverständiger war.
»Fürs Erste aber konzentrieren sich unsere Bemühungen weiterhin auf Lee Sherratt«, sagte der DCI. »Leider haben wir einen Aufenthaltsort bisher nicht feststellen können. Seine Mutter behauptet, nicht zu wissen, wo er ist. Angeblich hat sie ihn seit Sonntagnachmittag nicht mehr gesehen. Er ist, um es mit ihren Worten zu sagen, ›ein kleiner Rumtreiber‹, was auch immer wir uns darunter vorzustellen haben. Wir sind sehr daran interessiert, Lee Sherratt im Zusammenhang mit der Ermordung Laura Vernons zu vernehmen. Alle Beamten bekommen ein Fahndungsfoto ausgehändigt. Halten Sie die Augen offen.«
Ben Cooper riss sich zusammen. Seine Gedanken waren schon wieder abgeschweift. Es war fast, als wären die abschließenden Worte des DCI direkt an ihn gerichtet gewesen. Ja, er musste die Augen offen halten. Wenn er nicht aufpasste, würde er noch von seinen Ängsten verschlungen werden.
Charlotte Vernon lag im Wohnzimmer auf der Couch, lediglich in einen schwarzen Satinmorgenrock gehüllt. Aber ihr Haar war frisch gewaschen und gebürstet, sie hatte sich geschminkt und die Zehennägel lackiert. Obwohl Graham sich normalerweise an dem Anblick seiner leicht bekleideten Frau erfreut hätte, ärgerte es ihn heute, dass sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, sich richtig anzuziehen. Irgendwie schien ihm ihre Nachlässigkeit symbolisch zu sein, ein Sinnbild für den schleichenden Zerfall der Familie.
»Das kann er nicht machen«, sagte Graham. »Das dürfen wir nicht zulassen.«
»Und wie willst du ihn daran hindern?«, fragte Charlotte. »Er hört doch schon seit Jahren nicht mehr auf dich.«
»Ich dachte … Könntest du nicht mal mit ihm reden, Charlie?«
»Es wäre möglich, dass er auf mich hört«, gab sie zu.
»Na also. Nimm ihn dir vor, bevor er aus dem Haus geht.«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich mit ihm rede.«
»Und warum nicht, zum Donnerwetter?«
Charlotte überlegte und griff nach dem Glas, das in diesen Tagen nie weit entfernt zu stehen schien.
»Vielleicht hilft es ihm, sich alles von der Seele zu reden.«
»Ihm hilft es vielleicht, aber mir bestimmt nicht!«
»Dir oder der Firma?«
»Für die Firma wäre es natürlich auch nicht gut. Ich kann mir keinen Skandal leisten. Das wäre verheerend für meinen guten Ruf. Das weißt du doch, Charlie.«
»Und was ist mit mir?«
»Wie bitte?«
»Würde es mir gut tun? Das ist die Frage, die ich mir stelle. Würdest du dich verändern, Graham? Würde sich unser Verhältnis ändern, wenn alles ans Tageslicht kommt? Das frage ich mich.«
»Charlie – möchtest du, dass sich etwas verändert?«
»Ich weiß nicht.«
»Herrgott noch mal, was willst du eigentlich? Ich habe bei dir schließlich auch immer ein Auge zugedrückt.«
»Ein Auge zugedrückt? So nennst du das?«
»Habe ich dir etwa nicht immer alles durchgehen lassen?«
»Doch, das stimmt schon. Und du dachtest, ich wollte es so? Wirklich?«
Graham seufzte gereizt. »Ich werde dich nie verstehen.«
Seit Charlotte nicht mehr unter Beruhigungsmitteln stand, sah man sie fast nur noch mit einer Zigarette oder einem Glas Bacardi in der Hand. Im ganzen Haus standen überquellende Aschenbecher herum, die nur dreimal in der Woche geleert wurden, wenn Sheila Kelk putzen kam. Graham hoffte, das Daniel Mrs. Kelk nicht vertrieben hatte. Aber sie
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