Kuehler Grund
war wohl auch viel zu neugierig, um nicht wiederzukommen.
Er musterte seine Frau, und ihm fiel auf, wie dunkel ihre Haarwurzeln nachwuchsen. Sie sah müde aus, obwohl sie in den letzten Tagen so viel geschlafen hatte. Sie blickte ihn an, und in ihrem Blick lagen Feindseligkeit und offener Hass. Der Tod ihrer Tochter hatte einen Keil zwischen sie getrieben.
»War jemand hier, während ich außer Gefecht gesetzt war?«, fragte sie.
»Wie meinst du das?«
»War jemand im Haus?«
»Die Polizei. Wusstest du, dass sie den Garten durchsuchen wollen? Beziehungsweise durchkämmen, wie sie das nennen. Weiß Gott, was sie sich davon versprechen.«
»Außer der Polizei. Außer Daniel. War sonst noch jemand hier, den ich nicht gesehen habe?«
»Mrs. Kelk natürlich.«
»Frances Wingate?«
»Nein.«
»Edward Rändle auch nicht?«
»Nein. Ich habe ihnen gesagt, dass sie nicht kommen sollen. Allen unseren Bekannten. Das wolltest du doch so. Ich habe ihnen gesagt, dir wäre nicht nach Besuch zu Mute.«
»Dann war Frances also nicht hier.«
»Das sagte ich doch.«
»Und auch sonst niemand.«
»Nein.«
Charlotte zündete sich eine Zigarette an, sog mit gespitzten Lippen daran und kniff die Augen zu.
»Ich weiß nicht, warum ich dir jemals vertraut habe«, sagte sie.
»Müssen wir uns jetzt gegenseitig zerfleischen, Charlie?«
»Während ich im Bett lag«, sagte sie, »habe ich nachgedacht. Man ist nicht völlig bewusstlos unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln. Der Verstand funktioniert noch. Und wenn man nicht abgelenkt wird, werden die Dinge sogar klarer. Alle Erinnerungen sind wieder hoch gekommen. Die ganzen Erinnerungen an Laura.«
Sie ging zur Vitrine und tastete nach dem leeren Bilderrahmen, der zwischen den anderen Fotos stand.
»Wann bekommen wir ihr Foto zurück?«
»Ich werde mich erkundigen«, sagte Graham.
»Ich muss alles von ihr zurückbekommen, was ich nur kriegen kann.«
»Ich verstehe.«
Charlotte drehte sich zu ihm um, Tränen in den Augen, den Mund vor Wut verzerrt.
»Ich gebe dir die Schuld, Graham. Begreifst du das? Wenn ich daran denke … an alles. Ich habe meine Tochter verloren, und jetzt nehmen sie mir auch noch meine Erinnerungen an sie. Wie konntest du das zulassen?«
Graham wollte ihr den Arm um die Schultern legen, gerührt von ihren Tränen, doch sie stieß ihn weg.
»Fass mich nicht an. Wie kannst du nur in einem solchen Augenblick an so was denken? Du bist ein Tier.«
»Daran habe ich gar nicht gedacht, Charlie. Wirklich nicht.«
»Laura hat mir alles erzählt«, sagte sie verzweifelt. »Sie hatte keine Geheimnisse vor mir.«
Das Telefon klingelte. Graham wollte hingehen, überlegte es sich aber anders. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Sicher war es nur ein besorgter Kunde. Wann war wieder mit Graham zu rechnen? Wann würde er ihnen wieder voll und ganz zur Verfügung stehen? Er hatte Verständnis dafür. Ihre Geschäfte mussten schließlich weitergehen. Graham hatte mit dem Gedanken gespielt, die Firmenleitung an Andrew Milner abzugeben und ihm die gesamte Verantwortung zu übertragen. Aber diese Anwandlung war so schnell vergangen, wie sie gekommen war. Sicher würde er die Zügel bald wieder selbst in die Hand nehmen können. Es konnte nicht mehr allzu lange dauern, bis die Polizei den Fall aufgeklärt hatte und einen Tatverdächtigen präsentieren konnte. Solange er nur Daniel davon abbringen konnte, Unheil anzurichten.
»Wir müssen zusammenhalten, Charlie. Sprichst du mit Daniel?«
Sie hob den Kopf und trocknete sich die Augen. Noch waren die schweren Schritte ihres Sohnes nicht auf der Treppe zu hören. Noch war es Zeit, ihn abzufangen. Sie antwortete mit einer Gegenfrage.
»Da ist doch nichts, was ich nicht weiß, Graham?«
»Was meinst du damit?«
»Über Laura. Ich muss genau wissen, was passiert ist und warum. Du verschweigst mir doch nichts?«
Graham erkannte, wie viel von seiner Antwort abhing. Sollte er seiner Frau die Wahrheit sagen, oder wollte sie belogen werden? Er dachte an die Informationen, die Tailby und sein Team inzwischen zusammentrugen – Einzelheiten, die Charlottes Illusionen über ihre Tochter zerstören würden. Die Richtung der Fragen, die Tailby ihm über Lee Sherratt und sogar Daniel gestellt hatte, ließ keinen Zweifel daran. Und wem würde Charlotte die Schuld dafür geben? Sie hatte gesagt, dass sie ihm nicht mehr vertraute. Davon, was sie von ihm hielt, konnte der Erhalt oder Zerfall der Familie abhängen. Die
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