Kuehles Grab
Weg gelaufen sind, in der Nähe. Und ich glaube, diese Person weiß etwas über das Massengrab in Mattapan. Und möglicherweise auch etwas über Sie.«
»Warum über mich?«
»Weil Sie der Schlüssel zu diesem Grab sind, habe ich recht, Annabelle? Ich weiß nicht, warum, aber all diese Vorgänge haben mit Ihnen zu tun.«
Mein Nachbar rannte mit vier Plastiktüten in den Händen die Treppe hinauf. Er nickte uns kurz zu – eine ganz normale Szene: eine junge Frau, ein älterer Herr, ein aufgekratzter Hund – und lief weiter.
Charlie sah ihm nach.
»Sie wissen etwas über Mattapan, Charlie«, behauptete ich.
Er nickte bedächtig.
»Etwas, was Sie der Polizei nicht erzählt haben.«
Wieder ein langsames Nicken.
»Warum sind Sie hier, Mr. Marvin? Warum belauern Sie mich?«
»Ich will es wissen«, erwiderte er ruhig. »Ich will alles wissen. Nicht nur über ihn, sondern auch über Sie, Annabelle.«
»Sagen Sie es mir«, verlangte ich – ein dummer Fehler.
Charlie Marvin lächelte. »Gut. Da wir jetzt Freunde sind, werden Sie mich in Ihr Apartment einladen müssen.«
»Und wenn ich das ablehne?«
»Sie werden ja sagen, Annabelle. Das müssen Sie, wenn Sie die Wahrheit erfahren wollen.«
Er hatte mich am Haken, das wussten wir beide. Neugier bringt die Katze um, rief ich mir ins Gedächtnis. Aber die Wahrheit war eine zu mächtige Verlockung.
Ich nickte.
Ich ließ ihn auf der Treppe vorangehen. Wenn ich ihn im Blick hatte, kam ich mir weniger töricht vor. Ich müsse die Koffer tragen, erklärte ich ihm. Und wenn er hinter mir wäre, würde ich ihn vielleicht versehentlich stoßen. Er ahne ja nicht, wie ungeschickt ich sein konnte, fügte ich hinzu.
Charlie akzeptierte meine Erklärung mit einem freundlichen Lächeln.
Die langen Treppen und die Koffer gaben mir Gelegenheit, mich selbst zu verfluchen. Warum hatte ich den Elektroschocker im Keller vergessen? Und wieso, um alles in der Welt, war ausgerechnet mein Hund ein so schlechter Menschenkenner? Mittlerweile war ich überzeugt, dass Charlie Marvin eine Bedrohung darstellte.
Meine Pluspunkte waren meine Fitness und die Jugend. Als wir in der vierten Etage ankamen, keuchte Mr. Marvin heftig. Er hielt sich abseits, während ich das erste, zweite, dritte Schloss öffnete.
»Sie sind ein vorsichtiges Mädchen«, bemerkte er.
»Man kann nie wissen.«
Ich machte die Tür auf. Wieder ließ ich ihm den Vortritt, dann stellte ich den großen Koffer in die Tür.
»In einem solchen Gebäude hallt jedes Wort im Treppenhaus wider«, meinte Charlie.
»Oh, ganz bestimmt«, versicherte ich. »Schreie auch. Und wir wissen ja, dass mindestens ein Nachbar zu Hause ist.«
Er lächelte betrübt. »Habe ich Ihnen Angst eingejagt?«
»Warum erzählen Sie mir nicht einfach, was Sie sagen wollen, Mr. Marvin?«
»Ich bin nicht die wahre Gefahr«, sagte er leise.
»Mr. Marvin …«
»Er ist es«, sagte Charlie und deutete auf einen Punkt hinter mir.
Bobby lief, und D. D. redete.
»Du hast den Hintergrund von diesem Charlie Marvin nicht überprüft?«
»Sinkus hat sich erst heute Morgen darum gekümmert. Marvin war im Pine Street Inn. Er hat ein Alibi für letzte Nacht.«
»O ja, und woher willst du wissen, dass der Charlie Marvin, der heute Nacht im Pine Street Inn war, unser Charlie Marvin ist?«
»Was willst du damit sagen?«
»Man muss persönlich hingehen und ein Foto zeigen. Ausgerechnet uns passiert dieser Anfängerfehler!«
»Ich habe den Anruf nicht gemacht«, protestierte Bobby, dann gab er auf. D. D. war zu wütend, um ihm zuzuhören. Sie brauchte jemanden, an dem sie sich abreagieren konnte, und er hatte das Pech gehabt, zufällig in ihrer Nähe gewesen zu sein.
Sie hatten eine Fahndung für einen Mann ausgegeben, zu dem Charlie Marvins Beschreibung passte. Da sie mit dem, was bekannt war, anfangen mussten, hatten sie Ermittler ins Pine Street Inn, in den Columbus Park, nach Faneuil Hall und auf das Gelände des Boston State Mental geschickt. Mit etwas Glück konnte Marvin bald aufgegriffen werden.
»Es ergibt immer noch keinen Sinn«, grummelte Bobby, während sie durch die Lobby eilten. »Marvin kann nicht Onkel Tommy sein. Er ist zu alt.«
»Wir nehmen meinen Wagen«, rief D. D. und stieß die schwere Glastür auf.
»Wo steht er?«
Sie sagte es ihm, und er schüttelte den Kopf. »Mein Wagen ist näher. Außerdem fährst du wie ein Mädchen.«
»Das wirst du eines Tages noch bereuen«, schimpfte D. D., folgte ihm jedoch zu seinem Crown Vic.
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