Kuehles Grab
Abend gesprochen, wenn ich bei ihr übernachtet hatte. Und sie hatte nach ihrer Mutter gerufen, die bei dem Gutenachtkuss immer nach Lavendel geduftet hatte. Unter der Decke vergrub ich das Gesicht in den Händen. Ich weinte lautlos – so wie ich es in meinem Leben auf der Flucht gelernt hatte.
Das Auto wurde wieder langsamer. Das Fenster glitt herunter, und Detective Dodge nannte seinen Namen. Dann erklangen verschiedene Stimmen im Hintergrund – eine Frage, eine Bemerkung.
Das Fenster schloss sich wieder. Der Wagen rollte an.
»Bereit?«, fragte Detective Dodge.
Noch immer unter der Decke, wischte ich mir das Gesicht ab. Doch im Grunde dachte ich hauptsächlich an meinen Vater und daran, wie sehr ich ihn hasste.
Dodge musste mir die Tür öffnen. Die hinteren Türen von Polizeiwagen lassen sich nur von außen aufmachen. Seine Miene war unergründlich, als er mir beim Aussteigen half. Seine grauen Augen fixierten einen Punkt hinter meiner rechten Schulter. Ich folgte seinem Blick zu einem zweiten Wagen, der unter einer kahlen, weit ausladenden Eiche parkte. Sergeant Warren stand missmutig daneben.
»Sie ist Leiterin der Ermittlungen«, raunte Detective Dodge mir zu. »Ich kann den Tatort nicht gut ohne ihre Genehmigung aufsuchen. Keine Angst, sie ist auf mich wütend. Sie sind nur eine willkommene Zielscheibe.«
Ich straffte die Schultern und atmete tief durch. Dodge nickte anerkennend und ging auf Warren zu. Ich folgte ihm und schlang die Arme um mich, damit mir wärmer wurde. Der Tag war grau und kühl. Der Herbst, der mit seinen strahlenden Farben die schönste Zeit in New England war, hatte vor zwei Wochen seinen Höhepunkt überschritten. Die Luft roch feucht und modrig. Ich hatte den feinen Geruch von Fäulnis in der Nase.
Im Internet hatte ich gelesen, dass das Boston Lunatic Hospital 1839 gegründet und 1908 zum Boston State Mental Hospital umbenannt worden war. Ursprünglich hatte man hier ein paar hundert Patienten untergebracht. Der Betrieb wurde eher wie eine Farm geführt denn wie eine Irrenanstalt. Bis Anfang der fünfziger Jahre stieg die Patientenzahl auf über dreitausend an, und es wurden noch zwei Hochsicherheitsgebäude und ein hoher schmiedeeiserner Sicherheitszaun auf dem Gelände errichtet. Damit war es nicht mehr der ruhige, friedliche Ort. Als die Einrichtung 1980 geschlossen wurde, atmete die Bevölkerung auf.
Ich rechnete damit, dass es schaurig und unheimlich wäre, wenn ich dieses Grundstück betrat. In meiner Phantasie hatte ich mir ein gespenstisches gotisches Gebäude und ein blasses, hageres Gesicht hinter einer der zerbrochenen Fensterscheiben vorgestellt. In Wahrheit konnte man von hier aus die Gebäude gar nicht sehen. Stattdessen entdeckte ich überall Gestrüpp und eine riesige alte Eiche. Sergeant Warren ging über einen schmalen Pfad durch silbriges Gras, das im Wind wogte. Das Fleckchen war idyllisch wie ein Rastplatz an einem Wanderweg und glich kein bisschen dem Ort eines grausamen Verbrechens.
Ich entdeckte einen Schutthaufen, wie es schien. Warren blieb abrupt stehen und deutete auf den überwucherten Haufen.
»Die Botaniker haben angefangen, darin herumzustochern«, erklärte sie Dodge. »Sie haben Teile von Metallregalen gefunden, die dem in der Kammer ähnlich sind. Klingt, als hätte es in der Klinik viele solcher Regale gegeben. Ich habe jemanden drangesetzt, die Archivfotos durchzusehen.«
»Du denkst, das Mobiliar kommt aus der Klinik?«, fragte Detective Dodge.
»Ich weiß nicht, aber die durchsichtigen Plastiksäcke … Es heißt, sie wurden in den siebziger Jahren in allen staatlichen Einrichtungen benutzt.«
Sergeant Warren setzte den Weg fort, Detective Dodge hielt sich dicht hinter ihr. Ich bildete die Nachhut, verwirrt von ihrem Wortwechsel.
Wir stapften durch ein Wäldchen zu einer Lichtung, auf der ein blaues Zelt aufgebaut war.
Zum ersten Mal blieb ich stehen. Bildete ich mir das ein, oder war es hier wirklich stiller? Kein Vogelgezwitscher, kein Laubrascheln, keine fiependen Eichhörnchen. Nicht einmal der leichte Wind war noch zu spüren. Alles schien wie erstarrt zu sein.
Sergeant Warren eilte mit entschiedenen Schritten weiter. Mir wurde klar, dass sie nicht hier sein wollte, und das machte mich noch nervöser. Was muss das für ein Tatort sein, wenn sich selbst hartgesottene Cops fürchteten?
Unter der Plane standen zwei große Plastiktonnen. Warren nahm die grauen Deckel ab und holte weiße Overalls aus einem papierartigen
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