Kuehles Grab
unserer Gegend schlichtweg nicht vor.
Mr. Petracelli und ich überlegten, ob wir auch wegziehen sollten – besonders nachdem deine Familie fort war. Und wir entschieden uns dafür. Wir schickten Dori übers Wochenende zu meinen Eltern, damit wir uns auf Haussuche begeben konnten. Wir kamen gerade vom Makler zurück, als das Telefon klingelte. Es war meine Mutter. Sie fragte, ob wir wüssten, wo Dori sei. ›Was soll das heißen?‹ erwiderte ich. ›Dori ist bei euch.‹ Dann entstand ein langes Schweigen. Meine Mutter fing an zu weinen.
Mrs. Petracelli stellte ihren Kaffeebecher ab, lächelte mich an, als wollte sie sich entschuldigen, und wischte sich mit der Fingerspitze die Tränen aus den Augenwinkeln. »Es wird nicht leichter. Man redet sich ein, dass die Zeit auch diese Wunde heilt, aber das tut sie nicht. Es gibt zwei Ereignisse in meinem Leben, die ich bis zum letzten Atemzug tief in mir trage: die Geburt meiner Tochter und den Anruf, bei dem ich erfuhr, dass sie verschwunden war. Manchmal versuche ich, einen Handel mit Gott abzuschließen. Ich würde ihm alle glücklichen Erinnerungen schenken, wenn er mir die schmerzerfüllten Momente nimmt. Natürlich ist das eine Illusion. Ich muss mit der ganzen Last leben, ob ich das will oder nicht. Bitte –«, ihr Tonfall wurde wieder fester, »– nimm doch noch ein Stück Bananenbrot.«
Ich bediente mich noch einmal. Wir beide durchliefen die Rituale der Höflichkeit, um das Furchtbare in Schach zu halten.
»Gab es Spuren?«, fragte ich.
»Ein Nachbar sagte aus, ihm sei ein weißer Lieferwagen in der Gegend aufgefallen, und er erinnerte sich, dass ein junger Mann mit kurzem dunklen Haar und weißem T-Shirt am Steuer saß. Er hielt ihn für einen Handwerker, der in der Nachbarschaft zu tun hatte. Ansonsten hat sich niemand bei der Polizei gemeldet. In all den Jahren gab es keinen einzigen Hinweis.«
Ich zwang mich, ihr in die Augen zu sehen. »Mrs. Petracelli, wusste mein Vater, dass Dori vermisst wurde?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe es ihm sicherlich nicht erzählt. Nach dem letzten Anruf hatten wir keinerlei Kontakt mehr. Wenn ich genauer darüber nachdenke, erscheint mir das eigenartig. Aber nach allem, was in diesem November passierte, haben wir nicht mehr an dich und deine Familie gedacht; wir hatten zu viel damit zu tun, uns um uns selbst zu kümmern. In den Nachrichten wurde jedoch über Doris Verschwinden berichtet. Besonders in den ersten Tagen, als die Polizei und Freiwillige rund um die Uhr die Gegend absuchten. Ich kann nicht sagen, ob deine Eltern etwas von dem Presserummel mitbekommen haben. Warum fragst du?«
»Ich weiß nicht.«
»Annabelle?«
Ich konnte sie nicht mehr ansehen. Ich war nicht hergekommen, um ihr das zu sagen. Ich wollte es nicht. Ich war hier, um mehr über Doris Entführung in Erfahrung zu bringen und mich auf den Krieg vorzubereiten, der vor mir lag. Aber hier, in dieser freundlichen Küche, brachte ich das nicht mehr fertig. Mir war klar, dass sie ihre Tochter vor sich sah, wenn sie mich anschaute, das kleine Mädchen, das nicht erwachsen werden durfte.
»Ich habe Dori das Medaillon gegeben«, rief ich aus. »Es war eines der Geschenke, die er für mich auf die Veranda gelegt hat. Mein Vater verlangte, dass ich es in den Müll werfe, aber das konnte ich nicht. Ich habe es Dori gegeben.«
Mrs. Petracelli sagte kein Wort. Sie stand auf und fing an, den Tisch abzuräumen.
»Annabelle, glaubst du, meine Tochter wurde wegen eines albernen Medaillons umgebracht?«
»Vielleicht.«
Sie nahm erst meinen, dann ihren Kaffeebecher und stellte sie vorsichtig in die Spüle. Als sie zurückkehrte, beugte sie sich zu mir, legte die Hände auf meine Schultern und hüllte mich in Lavendelduft ein.
»Du hast meine Tochter nicht getötet, Annabelle. Du warst ihre beste Freundin. Sie hatte unendlich viel Spaß mit dir. Die Wahrheit ist, dass keiner von uns voraussagen kann, wie viel Zeit wir hier auf Erden haben. Dori wurde geliebt und hatte ein schönes Leben. Daran denke ich jeden Morgen beim Aufwachen und abends, ehe ich einschlafe. Meine Tochter hatte sieben Jahre voller Liebe. Das ist ein größeres Geschenk, als viele andere bekommen. Und du warst Teil dieses Geschenks, Annabelle. Dafür danke ich dir.«
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Sie sind so tapfer …«
»Ich spiele mit den Karten, die mir gegeben wurden«, entgegnete Mrs. Petracelli. »Tapferkeit hat nichts damit zu tun. Annabelle, ich freue mich, mit dir reden
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