Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
wegen dieser eisernen Gesichtsschleier, die seine Augen verhüllen.
Auf der Ural- und den sibirischen Fernverkehrsstrecken verkehrten in jenen Jahren noch die berühmten »Stolypin«-Waggons – ein Beiname, den die Gefängniswaggons noch viele Jahrzehnte behielten, ohne irgendwie »Stolypin«-Waggons zu sein.
Der »Stolypin«-Waggon hat zwei kleine quadratische Fenster auf der einen Waggon-Seite und einige große auf der anderen. Diese Fensterchen, vergittert, lassen es überhaupt nicht zu, von außen zu sehen, was innen vorgeht, selbst wenn man dicht an das Fensterchen herantritt.
Innen ist der Waggon in zwei Teile unterteilt durch massive Gitter mit schweren rasselnden Türen, jede Häfte des Waggons hat ihr kleines Fenster.
An beiden Seiten – Abteile für die Begleitposten. Und ein Korridor für die Begleitposten.
Ein Sonderkonvoj fährt nicht in den »Stolypin«-Waggons. Begleitposten geleiten Einzelne in gewöhnlichen Zügen, in einem der äußeren Coupés – alles ist noch familiärer, einfach – wie vor der Revolution. Man hatte noch keine Erfahrung gesammelt.
Der Sonderkonvoj kam von der Insel – so nannte man die Solowezker-Inseln damals, einfach die Insel, wie die Insel Sachalin – und übergab einen mittelgroßen alten Mann mit Krücken in der obligatorischen Solowki-Steppjacke aus Mantelstoff, in einer ebensolchen Ohrenklappenmütze, der
solowtschanka
.
Der Mann war ruhig und grauhaarig, er bewegte sich ruckartig, und man sah, dass er die Kunst, an Krücken zu gehen, erst noch lernte, dass er erst kürzlich zum Invaliden geworden war.
In der allgemeinen Baracke mit den Doppelpritschen war es eng und stickig, trotz der weit geöffneten Türen an beiden Enden des Gebäudes. Der Holzboden war mit Sägespänen bestreut, und der Diensthabende, der am Eingang saß, besah sich im Licht der Dreiviertelzoll-Petroleumlampe die in den Spänen hüpfenden Flöhe. Von Zeit zu Zeit, den Finger angeleckt, begab sich der Diensthabende auf die Suche nach den ungestümen Insekten.
In dieser Baracke wurde auch dem Ankömmling ein Platz zugewiesen. Der Nachtdienst der Baracke machte eine unbestimmte Geste und zeigte mit der Hand in die dunkle und stinkende Ecke, in der nebeneinander hingestreckt Leute in Kleidern schliefen und in der nicht nur für einen Menschen, sondern auch für eine Katze kein Platz mehr war.
Aber der Ankömmling zog ruhig die Mütze über die Ohren, legte seine Krücken auf den langen Mittagstisch und kletterte über die schlafenden Leute oben und legte sich hin und schloss die Augen, ohne eine einzige Bewegung zu machen. Mit der Kraft seines Gewichts drückte er sich einen Platz zwischen den anderen Körpern zurecht, und wenn seine schläfrigen Nachbarn eine Bewegung machten – hatte der Körper des Ankömmlings in diesem winzigen freien Raum Platz. Als er mit Ellbogen und Becken die Bretter der Pritsche fühlte, entspannte der Ankömmling die Muskeln seines Körpers und schlief ein.
Am folgenden Morgen stellte sich heraus, dass der angereiste Invalide der langerwartete Erste Sachbearbeiter war, auf den die Lagerleitung so gewartet hatte.
In der Mittagszeit wurde er zur Leitung gerufen, und gegen Abend wurde er in eine andere Baracke verlegt – der Verwaltungsbediensteten, wo alle gefangenen Lagerangestellten wohnten. Das war eine Baracke von erstaunlicher, höchst seltener Konstruktion.
Sie wurde gebaut, als Chef des Lagers ein ehemaliger Seemann war, der 1918 die Schwarzmeerflotte versenkte, als der berühmte Unterleutnant zur See Raskolnikow dort ankam.
Der Seemann machte an Land Karriere im Lager, und der Bau der Baracke für die Versorgung war sein Einfall, sein Tribut an seine Marinevergangenheit. In dieser Baracke waren die Doppelstockpritschen aufgehängt – an Stahltrossen. Sie hingen in Grüppchen zu vier Personen, wie die Seeleute im Mannschaftsraum. Zur Befestigung war die Konstruktion von einer Seite mit einem langen dicken Draht verbunden.
Darum kamen bei der geringsten Bewegung auch nur eines Bewohners dieser Baracke alle Pritschen gleichzeitig ins Schaukeln.
Und weil sich mehrere Personen gleichzeitig bewegten, waren die Hängepritschen in ununterbrochener Bewegung und quietschten, quietschen leise, aber vernehmlich. Das Schaukeln und Quietschen hörte im Laufe des Tages keinen Moment auf. Nur während der Abendkontrollen hielten die beweglichen Pritschen an, wie ein müdes Pendel, und waren still.
In dieser Baracke lernte ich auch Stepanow kennen, Michail
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