Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
werden, kann man im Frost nicht lange arbeiten.
Im Spätherbst 1938 bekam ich ein Paket von zu Hause – meine alten Flieger
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mit Korksohle. Ich hatte Angst, sie aus der Post zu tragen, das Gebäude war von einer Ganovenmenge umringt, die im weißen Halbdunkel des Abends von einem Bein auf das andere hüpfte und auf Opfer wartete. Ich verkaufte die
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sofort für hundert Rubel an den Vorarbeiter Bojko – nach den Preisen der Kolyma kosteten die
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etwa zweitausend. Vielleicht wäre ich mit den
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bis in die Baracke gekommen – man hätte sie mir noch in der ersten Nacht gestohlen, von den Füßen gezogen. Und in die Baracke geführt hätten die Diebe meine eigenen Nachbarn für eine Papirossa, für eine Brotrinde, sie hätten sofort für die Räuber »baldowert«. Von solchen »Baldowerern« war das ganze Lager voll. Aber die hundert Rubel, die ich mit den
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verdient habe – das sind hundert Kilogramm Brot, und Geld aufzubewahren ist erheblich leichter, wenn man es an den Körper bindet und sich bei Einkäufen nicht verrät.
Und da laufen die Ganoven in den Filzstiefeln, umgeschlagen nach der Ganovenmode, »damit kein Schnee eindringt«, und »beschaffen« Halbpelze, Schals und Ohrenklappenmützen, und nicht einfach Ohrenklappenmützen, sondern stilvolle, Ganovenmützen,
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-»Uniform«mützen.
Der junge Bauer, Arbeiter oder Intelligenzler weiß nicht, wo ihm der Kopf steht. Der junge Kerl sieht, dass die Diebe und Mörder im Lager am besten leben, materiell relativ abgesichert sind und sich durch eine gewisse Festigkeit der Ansichten und ein beneidenswert verwegenes, furchtloses Benehmen hervortun.
Die Diebe nimmt die Leitung ernst. Die Ganoven sind die Herren über Leben und Tod im Lager. Sie sind immer satt, sie können »beschaffen«, wenn alle anderen hungern. Der Dieb arbeitet nicht, er trinkt, selbst im Lager, und der Bauernjunge muss »ackern«. Die Diebe sind es auch, die ihn zum »Ackern« zwingen – so haben sie sich geschickt angepasst. Die Diebe haben immer ihren Tabak, und der Lagerfriseur, der ihnen einen »Fassonschnitt« schneidet, kommt »ins Haus«, in die Baracke, und bringt seine besten Instrumente mit. Der Koch bringt ihnen täglich aus der Küche gestohlene Konserven und Süßigkeiten. Für die kleineren Diebe gibt es aus der Küche die besten und zehnmal größere Portionen. Der Brotschneider verweigert ihnen niemals Brot. Sämtliche freie Kleidung tragen die Diebe. Auf dem besten Pritschenplatz – am Licht, am Ofen – liegen die Ganoven. Sie haben auch Watteunterlagen und Wattedecken, und er – der junge Kolchosarbeiter – schläft auf längs gespaltenen Holzstämmen. Allmählich denkt der Bauernjunge, dass bei den Ganoven auch die Wahrheit des Lagers liegt, dass sie, materiell wie moralisch, die einzige Kraft im Lager sind – von der Leitung abgesehen, die es in der großen Mehrzahl der Fälle vorzieht, sich mit den Ganoven nicht zu streiten.
Der junge Bauernbursche fängt an, den Ganoven einen Gefallen zu tun, sie nachzuahmen im Fluchen, im Verhalten, und träumt davon, sie zu unterstützen und in ihrem Licht zu erstrahlen.
Die Stunde ist nicht fern, in der er, auf Geheiß der Ganoven, den ersten Raub am Gemeinschaftskessel begeht – und der neue »Grünling« ist da.
Das Gift der Ganovenwelt ist unvorstellbar scheußlich. Die Infektion mit diesem Gift führt zur Zerstörung alles Menschlichen im Menschen. Diesen stinkenden Atem atmen alle, die mit dieser Welt in Berührung kommen. Welche Gasmasken braucht es hier?
Ich kannte einen Kandidaten der Wissenschaften, einen freien Arzt, der seinem Kollegen besondere Aufmerksamkeit gegenüber einem »Kranken« empfahl: »Das ist nämlich ein berühmter Dieb!« Man hätte denken können, dass der Patient mindestens eine Rakete auf den Mond geschickt hätte – so war der Ton dieser Empfehlung. Er, dieser Arzt, bemerkte gar nicht, wie kränkend ein solches Urteil für ihn, für die eigene Persönlichkeit war.
Die Diebe spürten schnell den »Schwachpunkt« von Iwan Aleksandrowitsch (so hieß der Kandidat der Wissenschaften). In der Abteilung, der er vorstand, lagen immer vollkommen gesunde Leute zur Erholung. (»Der Professor ist uns wie ein Vater«, scherzten die Diebe.)
Iwan Aleksandrowitsch führte gefälschte Krankengeschichten, ohne Rücksicht auf seine nächtliche Erholung und seine Zeit, er verfasste tägliche Aufzeichnungen, gab Analysen und Untersuchungen in Auftrag …
Irgendwann hatte ich
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