Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
wurde.
»Zu wem willst du?«
»Zu Ihnen, Nikolaj Antonowitsch«, wandte sich Andrejew an den Ältesten. »Wohin soll ich morgen zur Arbeit gehen?«
»Erleb erst mal den morgigen Tag«, sagte Mischka Timoschenko.
»Lass das meine Sorge sein.«
»Wegen solchen Gelehrten habe ich auch meine Haftstrafe, Ehrenwort, Antonytsch «, sagte Mischka. »Wegen diesen Iwan Iwanowitschs.«
»Du gehst zu Mischka«, sagte Nikolaj Antonowitsch. Das hat Korjagin verfügt. Wenn du nicht verhaftet wirst. Und Mischka wird dich schuften lassen.«
»Du musst wissen, wo du bist«, sagte Timoschenko streng. »Verdammter Faschist.«
»Du bist selbst ein Faschist, Dummkopf«, sagte Andrejew und ging, um ein paar Sachen den Kameraden zu geben – die Ersatzfußlappen, einen alten, aber noch guten Baumwollschal –, damit er bei der Verhaftung nichts Unnötiges bei sich haben würde.
Andrejews Pritschennachbar war der ehemalige Dekan der Bergbaufakultät Tichomirow. Er arbeitete im Schacht als Zimmerhäuer. Der leitende Ingenieur versuchte, den Professor wenigstens zum Vorarbeiter zu »befördern«, aber der Kohlerevier-Chef Swischtschew schlug es rundweg ab und sah seinen Stellvertreter feindselig an.
»Wenn Sie Tichomirow einsetzen«, sagte Swischtschew dem leitenden Ingenieur, »dann haben Sie im Schacht nichts zu tun. Verstanden? Und solches Gerede will ich nicht mehr hören.«
Tichomirow erwartete Andrejew.
»Na, was?«
»Überschlafen wir die Sache«, sagte Andrejew. »Es ist Krieg.«
Andrejew wurde nicht verhaftet. Wie sich herausstellte, wollte Tschudakow nicht lügen. Sie hielten ihn etwa einen Monat auf Karzerration, ein Becher Wasser und dreihundert Gramm Brot, aber konnten ihn zu keinerlei Bericht bewegen – Tschudakow war nicht zum ersten Mal in Haft und kannte den wahren Preis aller Dinge.
»Was belehrst du mich?«, sagte er dem Untersuchungsführer. »Andrejew hat mir nichts Schlechtes getan. Ich weiß, wie es bei euch geht. Ihr wollt ja nicht mich vor Gericht stellen. Ihr wollt Andrejew verurteilen. Aber solange ich lebe, verurteilt ihr ihn nicht, ihr habt noch zu wenig Lagergrütze gegessen.«
»Na«, sagte Korjagin zu Mischka Timoschenko, »du bist unsere einzige Hoffnung. Du kriegst das hin.«
»Gut, verstanden«, sagte Timoschenko. »Zuerst kriegt er eins ›auf den Bauch‹ – wir kürzen ihm die Ration. Na und wenn er sich verplappert …«
»Dummkopf«, sagte Korjagin. »Wozu denn verplappern? Bist du den ersten Tag auf der Welt, was?«
Korjagin entfernte Andrejew von der Arbeit unter Tage. Im Winter erreicht die Kälte im Schacht auf den unteren Sohlen nur zwanzig Grad, und draußen sind es sechzig. Andrejew stand in der Nachtschicht auf der hohen Halde, wo das Gestein gehäuft wurde. Von Zeit zu Zeit kamen die Förderwagen mit dem Gestein dort oben an, und Andrejew musste sie entladen. Es waren wenige Wagen, schreckliche Kälte, und selbst ein geringer Wind machte die Nacht zur Hölle. Dort brach Andrejew zum ersten Mal an der Kolyma in Tränen aus – früher war ihm das nie passiert, höchstens in jungen Jahren, wenn er Briefe von seiner Mutter bekam und sie nicht ohne Tränen lesen und nicht ohne Tränen daran denken konnte. Aber das war lange her. Und warum weinte er hier? Die Kraftlosigkeit, Einsamkeit, Kälte – Andrejew hatte sich angewöhnt, sich darauf eingestimmt, im Lager Verse herzusagen, vor sich hin zu flüstern, sie lautlos zu sprechen – aber im Frost konnte man nicht denken. Das menschliche Gehirn kann im Frost nicht arbeiten.
Ein paar Schichten im Eis, und Andrejew war wieder im Schacht, wieder bei der Förderung, und sein Partner war Kusnezow.
»Gut, dass du hier bist!«, freute sich Andrejew. »Mich haben sie auch wieder in den Schacht geholt. Was ist mit Korjagin passiert?«
»Ja, es heißt, sie haben gegen dich schon Material gesammelt. Genug«, sagte Kusnezow. »Mehr brauchen sie nicht. Ich bin auch zurück. Mit dir zu arbeiten ist gut. Und Tschudakow ist fort. Sie haben ihm Isolator gegeben. Wie ein Skelett. Er wird erstmal Badewärter. Im Schacht wird er nicht mehr arbeiten.«
Die Neuigkeiten waren bedeutsam.
Wenn ein Häftling Vorarbeiter war, ging er nach der Schicht ohne Begleitposten ins Lager, nachdem er seine Rechenschaftspflichten erledigt hatte. Mischka Timoschenko beschloss, ins Badehaus zu gehen, bevor die Arbeiter aus dem Lager kamen, so machte er es immer.
Der unbekannte abgemagerte Badewärter löste den Riegel und öffnete die Tür.
»Wohin willst
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