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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Goldkörnchen, und der Arbeiter stellte die Pfanne auf den Boden, nahm mit dem Fingernagel ein Körnchen auf und legte es auf einen Fetzen Papier. Das Papier wurde gefaltet wie ein Apothekenpulver. Eine ganze Brigade von einarmigen Selbstverstümmlern »wusch« winters wie sommers Gold. Und gab die Metallpartikel, die Goldkörnchen in die Bergwerkskasse. Dafür wurden die Einarmigen ernährt.
    Der Untersuchungsführer Iwan Wassiljewitsch Jefremow hatte einen geheimnisvollen Mörder gefangen, den sie mehr als eine Woche gesucht hatten. Vor einer Woche waren in der Hütte der geologischen Schürfer, etwa acht Kilometer von der Siedlung entfernt, vier Sprengmeister mit der Axt totgeschlagen worden. Gestohlen wurden Brot und Machorka, das Geld wurde nicht gefunden. Eine Woche verging, und in der Arbeiterkantine tauschte ein Tatare aus der Brigade der Zimmerleute gekochten Fisch gegen eine Prise Machorka ein. Machorka hatte es im Bergwerk seit Kriegsbeginn nicht gegeben – man hatte »Ammonal« hergebracht, grünen selbstangebauten Tabak von unwahrscheinlicher Stärke, und versuchte Tabak zu züchten. Machorka hatten nur die Freien. Der Tatare wurde verhaftet und gestand alles und zeigte sogar die Stelle im Wald, wo er die blutige Axt in den Schnee geworfen hatte. Iwan Wassiljewitsch Jefremow bekam eine hohe Auszeichnung.
    Zufällig war Andrejew der Pritschennachbar dieses Tataren – eines ganz gewöhnlichen hungrigen jungen Kerls, eines »Dochts«. Auch Andrejew wurde verhaftet. Zwei Wochen später ließ man ihn frei; in dieser Zeit gab es viele Neuigkeiten – Kolka Shukow hatte den verhassten Brigadier Kroljow totgeschlagen. Dieser Brigdier hatte Andrejew täglich vor den Augen der gesamten Brigade geschlagen, ohne Bosheit geschlagen, ohne Eile, und Andrejew hatte Angst vor ihm.
    Andrejew befühlte in der Tasche seiner Steppjacke ein Stück der amerikanischen Weißbrotration, die vom Mittagessen geblieben war. Es gab tausend Arten, den Genuss der Nahrung zu verlängern. Man konnte dieses Brot lecken, bis es von der Handfläche verschwindet; man konnte Krümel, winzige Krümel davon abbrechen und jeden Krümel lutschen und mit der Zunge im Mund umdrehen. Man konnte es auf dem Ofen rösten, der immer geheizt wurde, dieses Brot trocknen und die dunkelbraunen, gebackenen Brotstückchen essen – noch kein Zwieback, aber auch kein Brot. Man konnte das Brot mit dem Messer in feinste Scheiben schneiden und erst anschließend trocknen. Man konnte das Brot mit heißem Wasser aufsetzen, aufkochen, umrühren und eine heiße, dicke Suppe daraus machen. Man konnte die Stückchen in kaltes Wasser krümeln und einsalzen – dann bekam man eine Art Kwasspeise. All das musste in jener Viertelstunde passieren, die Andrejew von der Mittagspause blieb. Andrejew aß das Brot auf seine Weise. In einer kleinen Konservendose kochte er Wasser auf, fades Schneewasser, verunreinigt durch in die Dose gelangte winzige Kohlestückchen oder Krummholznadeln. In das weiße siedende Wasser tauchte Andrejew sein Brot und wartete ab. Das Brot quoll auf wie ein Schwamm, ein weißer Schwamm. Mit einem Stöckchen, einem Span riss Andrejew heiße Stückchen von diesem Schwamm und steckte sie in den Mund. Im Mund verschwand das aufgeweichte Brot sofort.
    Niemand beachtete Andrejews Manöver. Er war einer von Hunderttausenden »Dochten«, von »
dochodjagi
« an der Kolyma, deren Verstand längst zerrüttet war.
    Die Grütze kam ebenfalls über Lend-Lease – amerikanische Hafergrütze mit Zucker. Auch das Brot kam über Lend-Lease – aus kanadischem Mehl mit einer Beimischung von Horn und Reis. Das Brot war ungeheuer aufgegangen, wenn es aus dem Ofen kam, und kein Verteiler riskierte es, die Rationen am Abend vorzubereiten – jede »Zweihunderter«-Portion verlor über Nacht zehn, fünfzehn Gramm an Gewicht, und der ehrlichste Brotschneider konnte gegen seinen Willen zum Gauner werden. Das Weißbrot hatte fast keine Abfallstoffe – der menschliche Organismus warf das Unnütze nur alle paar Tage einmal aus.
    Die Suppe, der erste Gang, kam auch über Lend-Lease – den Geruch von Schweineschmorfleisch in Büchsen und Fleischfasern, die aussahen wie Tuberkulosestäbchen unter dem Mikroskop, fand jeder in seiner Mittagessenschüssel.
    Es gab, heißt es, auch Wurst, eingemachte Wurst, aber für Andrejew blieb sie Legende, ebenso wie die Kondensmilch »Alfa«, an die sich viele noch aus der Kindheit erinnerten, von den Paketen der »American Relief

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