Küss den Wolf
vollkommen gesehen und verstanden. So etwas ist mir vorher noch nie passiert.«
Aha, daher wehte der Wind… es ging also doch wieder um die Liebe – und um Männer. »Nicht wahr, Pippa, du verstehst mich doch, oder?« Alle drei wandten sich mir zu und mein Gesicht begann zu glühen. War jetzt der Zeitpunkt gekommen, um sich darüber zu beschweren, dass die beiden Tratschtanten nicht dichtgehalten und damit einen üblen Streit mit Tinka provoziert hatten? »Ich habe ja zum Glück keinen Liebeskummer. Aber Goethe hat auch positive Texte über die Liebe geschrieben«, stammelte ich und war heilfroh, dass Chikako in diesem Moment das Essen servierte.
»Wann lernen wir deinen Leo eigentlich mal kennen?«, fragte Jenny. Tinka starrte eine imaginäre Fliege an der Wand an.
»Au ja, ich kann es kaum erwarten! Er soll ja super aussehen. Ein bisschen wie der junge Russel Crowe, hat Tinka gesagt.« Okay, so viel zum Thema Lula wird ernsthaft.
»Ich, ich weiß es noch nicht«, versuchte ich abzuwiegeln. »Wir haben uns ja selbst bislang kaum gesehen. Leo hat viel um die Ohren… und Theodora liegt immer noch im Krankenhaus…«
Zum Glück kam Jenny mir zu Hilfe. »Dann freuen wir uns eben auf den Moment, in dem es passt. Also, Mädels. Ich halte fest: Lula ist unter die Literaten gegangen, Pippa ist verliebt und bei mir herrscht auf allen Ebenen gähnende Langeweile. Selbst die dumme Schnepfe Annika hat den Spaß daran verloren, mich beim Hockey zu nerven. Und was gibt’s Neues bei dir, Tinka?«
Tinka zuckte mit den Schultern. »Max ist so weit okay, aber ich habe ihn heute Abend daheimgelassen, weil er es total öde findet, hier herumzusitzen und uns beim Essen zuzusehen. Im Büromarkt läuft alles nach Plan. Ansonsten war ich gestern bei meinem Cousin in der Zwergen-WG und soll euch schön grüßen.«
»Wie geht es Guido denn?«, fragte ich, froh darüber, dass Tinka überhaupt den Mund aufmachte.
»Eigentlich ganz gut. Er hat ab nächster Woche einen neuen Job in einem angesagten Restaurant. Zur Vorbereitung schaut er wie ein Gestörter Koch-DVDs von Jamie Oliver und Tim Mälzer und hat sich in eine indische Kellnerin namens Alka verknallt. Im Grunde ist sein Leben momentan bedeutend aufregender als meines. Also, Jenny, willkommen im Club derer, deren Leben ein langer, ruhiger Fluss ist…«
»Und wo hat er diese Alka kennengelernt?«, bohrte ich neugierig nach.
»Im Café Oriental, da jobbt sie nämlich. Seit vier Wochen tut Guido fast nichts anderes, als dort abzuhängen, sie anzuschmachten und literweise Mango-Lassi in sich hineinzukippen. Das wäre an sich nicht weiter schlimm, wenn er wenigstens mal in irgendeiner Form zu Potte käme. Aber statt seine Traumfrau zu daten, sitzt er nur da, hat bereits vier Kilo zugenommen und jammert mir die Ohren voll, dass er eine Diät machen müsste und Sport treiben.« Ich lachte und dachte an das runde, durchaus sympathische Bäuchlein von Guido. Seit ich ihn kannte, neigte er zu Übergewicht und kämpfte mit den Kilos, die seine Hüften scheinbar magnetisch anzogen. »So ist das eben mit den guten Vorsätzen. Ich sollte mich auch mal wieder mehr bewegen«, sinnierte ich gedankenverloren.
»Oder dich deinem Blog widmen«, sprang Tinka auf den Zug und sah mich streng an. »Ist dir eigentlich klar, dass du außer dieser Red-Riding-Hood- Kritik nichts mehr reingestellt hast? Du veranstaltest keine Gewinnspiele mehr und du postest keine neuen Kino-Trailer. Hast du überhaupt mitbekommen, dass einige deiner Leser sich schon beschwert haben?«
Ich schluckte.
Verdammter Mist – der Blog.
Vielleicht sollte ich ihn besser stilllegen.
Schließlich hatte ich in der nächsten Zeit alle Hände voll damit zu tun, mich um Oma und den Garten zu kümmern, meine Deutsch-Zensur wieder auf Vordermann zu bringen und meine Liebe zu Leo zu leben.
Und nicht zu vergessen: Rezensionen für das H-Mag zu schreiben.
»Marc hat mir übrigens nahegelegt, das Film-Ressort an jemand anderen zu übergeben, wenn ich mich um Omas Haus und das Grundstück kümmere«, sagte ich mehr zu mir selbst als zu den anderen.
»Nahegelegt oder angeboten?«, hakte Tinka nach. Aus irgendeinem Grund stand sie konsequent auf Marcs Seite.
»Keine Ahnung«, grummelte ich, weil ich absolut keine Lust hatte, über diese Themen zu sprechen.
Wenn ich ehrlich war, wollte ich am liebsten nach Hause, um mit Leo zu telefonieren und anschließend von ihm zu träumen.
Seit unserem gestrigen Kuss war ich so dermaßen
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