Kuess mich toedlich
hatten, und das Gefühl, sie würde für ihn dasselbe empfinden. Ben musste nicht danach fragen, wieso das Album zerstört im Müll gelandet war, aber er konnte nicht aufhören, weiter in ihren Sachen herumzuschnüffeln. In einer ihrer Taschen fand er ihren Tagesplaner. Kurz zögerte er, das kleine rotbraune Lederbuch zu öffnen, doch der Wunsch, zu wissen, was sie Tag für Tag tat, war stärker. Leider konnte er die meisten Einträge nicht begreifen, da sie ihre Termine und Notizen in Abkürzungen eingetragen hatte. Für diesen Tag gab es zwei Vermerke. Einmal die Zeit für die Nachmittagsschicht und davor einen Eintrag um ein Uhr: S.V.-02. Mittwochs und freitags, wenn ihre Barschichten nicht dazwischen kamen, stand meistens: S.T. – Bahn drei. Das war nicht schwer zu erraten. Sarah war, selbst als Lara, nicht der Typ für Pferdewettrennen und er wusste von ihrer Neigung zu Schwimmbädern, also konnte es nur Schwimmtraining bedeuten. Aber was war S.V.? Dann entdeckte er ihre Einträge für Laufeinheiten, die sie sporadisch notiert hatte. S. wie Selbst und V. wie Verteidigung. Sarah verbrachte einen großen Teil ihrer freien Zeit damit, zu trainieren. Wofür hielt sie sich fit? Um für einen Angriff der Familie gerüstet zu sein? Der Gedanke machte ihn fertig. So sollte Sarahs Leben nicht aussehen, nicht wenn es nach Ben ging. Weder sollte sie gezwungen sein, sich in einer miesen Gegend zu verstecken, in einer zwielichtigen Bar, noch sollte sie ihre Zeit damit verschwenden, ihren Körper zu schinden, anstatt ihre geliebten Skizzen zu zeichnen oder Bücher zu lesen, so wie sie es früher immer gern getan hatte. Sarahs Leben sollte nicht von Angst bestimmt werden.
Ben war aber auch Realist.
Schließlich hatte sie jeden Grund, sich gut schützen zu wollen. Würde nicht so gut wie jeder, der nur haarscharf einen Angriff der Familie überlebt hatte, darauf reagieren, wie Sarah es tat? Das alles machte ihn verdammt wütend. Er ließ sich auf ihre schmale Matratze fallen und fuhr sich übers Gesicht. Wie sollte er ihr einen Ausweg zeigen? Gerade er, dessen Gesicht aussah wie das eines Gangmitglieds. Er hatte keine Antwort darauf und sah auf die Uhr. Heute noch zur Arbeit zu erscheinen, konnte er auch abhaken. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als die Zeit totzuschlagen, bis Sarah in die Bar kommen würde. Was sollte er nur mit sich anstellen, jetzt, wo er sich nicht mehr zu einem Kampf schleppen konnte, um sich sein Vergessen zu verdienen?
Er ging unter die Dusche, wusch sich mit ihrem Duschgel und versuchte so gut es ging, die Bilder einer nackten Sarah zu verdrängen, die dabei hochkamen. Dagegen half die Dusche kein bisschen, aber zumindest war er jetzt sauber.
*
Pavel, Sarahs Selbstverteidigungstrainer, hatte sie heute hart rangenommen. Ihre Beine und Arme schmerzten höllisch. Anscheinend würde sie immer einen Muskelkater von seiner Trainingseinheit bekommen, egal, wie viele Bahnen sie schwamm oder wie gut sie inzwischen lief. Es lag an Pavel, diesem riesigen Glatzkopf, der jeder weiblichen Teilnehmerin im Kurs mit seiner brachialen Art den Grund entlockte, wieso sie von ihm Selbstverteidigung lernen wollte. Wenn man in sein unbewegliches Bauerngesicht sah, konnte man nicht anders, als ihm zu antworten. So hatte auch Sarah eine Geschichte abgeliefert. Ihre Lüge von einem angeblichen Stalker-Ex, der sie geschlagen hatte. Deshalb wollte sie lernen, sich zu verteidigen. Sie war nicht die Einzige mit so einer Geschichte. Der Unterschied war nur, dass die der anderen Frauen wahrscheinlich echt waren und sie sich deshalb schämte. Doch solche Gefühle konnte sie sich nicht leisten. Sie brauchte Pavel, der den anfangs verschreckten Frauen erklärt hatte, dass er diesen Unterricht gab, weil seine Frau bei einer brutalen Vergewaltigung ums Leben gekommen war. Das war sein Grund. Deshalb war er rücksichtslos und ein verdammt guter Lehrer. Erst, nachdem sie es geschafft hatte, ihre Gabe so weit in den Griff zu bekommen, um die Gedanken und Gefühle, die bei Berührungen auf sie einströmten, besser abblocken zu können, wollte sie es immer mehr. Sie wollte sich verteidigen können, kein Opfer mehr sein. Anfangs hatte er sie Stunde um Stunde auf die Matte befördert. Eine knochige, dünne Frau, die nicht den geringsten Biss hatte. Aber schon nach den ersten Einheiten hatte Pavel es geschafft, den meisten Frauen so viel Angst vor einem Angriff zu machen, dass sie sich instinktiv und erfolgreich gegen ihn zur
Weitere Kostenlose Bücher