Kuess mich toedlich
Leben, der ihr etwas bedeutet hatte. Ihr war nichts anderes übrig geblieben. Ihre Andersartigkeit hatte sein Leben immer mehr belastet, und Sarah war selbst als Teenager klar gewesen, dass, solange sie bei ihm war, es für ihn kein unbeschwertes Glück geben würde. Sie hatte sich immer nur wie eine Belastung für ihn gefühlt. Die ständigen Ausraster, wenn er sie versehentlich berührte, waren unerträglich für ihn gewesen. Schließlich musste sie seine Schuldgefühle dabei ebenso spüren wie die Wut und Frustration, die in ihm stets größer geworden waren. Nie hatte eine seiner Beziehungen gehalten. Ihretwegen. Also tat sie das Einzige, was ihr richtig vorkam und ging, befreite ihn von seiner Bürde, der Tochter, die ihm manchmal unheimlich war, wofür er sich so sehr schämte, wie Sarah nur allzu deutlich fühlen konnte, wenn er sie ab und an doch berührte. Aber trotz allem hatte er ihr immer einen schönen Geburtstag geschenkt. Zumindest hatte er es versucht. Aber wie konnte man einen schönen Geburtstag für ein Mädchen ausrichten, das weder Freunde noch einen wahren Vater noch eine Mutter hatte? Sie hatte ihn nie wirklich gefühlsmäßig an sich herangelassen und ebenfalls nie überwinden können, von der Mutter verlassen worden zu sein. Die Antwort war einfach. Es ging nicht.
Jedes Jahr saßen sie in einem ruhigen Restaurant an einem Zweiertisch zusammen und aßen Sarahs Lieblingsspeise, die oft variierte. Ihr armer Vater versuchte, sie mit einem Geschenk glücklich zu machen, was jedes Jahr aufs Neue misslang. Seine Scham über sie veranlasste Sarah, so zu tun, als würde ihr gefallen, was sie in einer schlecht verpackten Schachtel überreicht bekam. Rückblickend betrachtet, war es eine traurige Angelegenheit gewesen, aber verglichen mit dem, was folgte, war es wenigstens etwas.
Seither hatte Sarah versucht, jeden Geburtstag zu ignorieren, was ihr tagsüber meist gelang. Aber je näher der Abend und das Alleinsein in der Wohnung rückten, desto schlimmer wurde die Melancholie, bis die Traurigkeit über alles, was sie nicht imstande war, zu ändern, sie wie eine schwere Bleikugel immer tiefer in ein Loch zog. Schon am späten Vormittag im Buchladen spürte sie eine bedrückende Stimmung, die mit jeder Stunde schlimmer wurde. Bens aufwühlender Besuch war nur eine weitere Last, die sie zu Boden drückte, auch wenn es noch so schön war, diesen umwerfenden Mann anblicken zu können. Also wich sie ihm aus.
Als der Feierabend gekommen war, nach einem langen, ereignislosen Tag, schloss Sarah ab und schlenderte langsam, mit hängendem Kopf zu ihrer Wohnung. Oben angekommen, öffnete sie die Tür, die ihr noch nie so schwer vorgekommen war, streifte den Mantel ab und ging ins Schlafzimmer, wo sie sich von ihren Klamotten befreite, die sie einschnürten. Erleichtert, nur mit Unterwäsche bekleidet, schnappte sie sich den weißen Baumwollbademantel, ihr absolutes Lieblingsteil, und kuschelte sich tief in ihn hinein. Aber heute half auch das nicht. Seltsamerweise musste sie immer wieder an Ben denken, an dessen merkwürdige, wandelbare, graue Augen und den Blick, den er bekommen hatte, als er ihr die Schokolade zu essen gab. Eigentlich sollte sie das Gefühl glücklich machen, das sie verspürt hatte, als er mit seinen Fingerspitzen ihre Lippe berührte. Aber die Angst war zu groß. Und der Tag machte alles kaputt, sogar das wenige Schöne in Sarahs tristem Leben. Sie fühlte, wie es über sie kam, wie jedes Jahr. Sie nahm sich vor, dass es dieses Jahr anders werden würde, aber es war zwecklos. Sarah wusste es. Jedes Jahr an ihrem Geburtstag kamen die einzigen Tränen des Jahres. An diesem Abend weinte sie um alles, was sie bedrückte, alles, was sie traurig und einsam machte, alles, was sie wütend und verzweifelt werden ließ, alles, was sie sich wünschte, und doch nicht haben konnte. Zuerst kamen die Tränen heiß und merkwürdig schüchtern, doch einmal losgelassen, wurden sie bald zu einem unaufhaltsamen Wasserfall, der von Schluchzern begleitet ihren ganzen Körper überfiel.
Leblos und ohne etwas sehen zu können, starrte sie aus dem Fenster und wünschte sich verzweifelt denselben Wunsch wie immer: Jemand anderes sein! Anders sein! Normal sein, um jeden Preis! Aber sich etwas Unerfüllbares zu wünschen, war zwecklos und machte ihre Situation nur schlimmer. Es gab niemanden, der sich für ihre Tränen interessierte. Niemanden, der sie beschützen würde und schon gar niemanden, dem sie sich
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