Kuess mich toedlich
würde sie nicht mehr vor Ben davonlaufen. Das nahm sie sich fest vor, auch wenn sie nicht sagen konnte, woher dieser kühne Entschluss gekommen war.
*
Etwas verschämter als sonst beobachtete Ben, wie Sarah sich wieder einmal auf dem Wasser treiben ließ. So etwas verstand er nicht. Von der Ausbildung her kannte er nur die Schinderei des Bahnenschwimmens , die man den Auszubildenden der Familie auferlegt hatte, um ihre Muskeln zu trainieren und ihren Körpern eine optimale Form zu geben. Die Familie sorgte nicht nur für starke, ausdauernde Athleten, sondern versuchte, auch Männer und Frauen, die für sie als Assassinen oder Spione dienten, möglichst ansehnlich zu formen und wollten keine übertriebenen Muskelberge. Niemand sollte auf den ersten Blick etwas Verdächtiges finden. Ein Muskelprotz fiel zu sehr auf, deshalb sollte man durch die Ausbildung unauffällig, doch körperlich ansprechend wirken. Nichts, was die Familie tat, geschah ohne ein klares Ziel. Und Sarahs entspanntes Treiben im warmen Wasser war absolut sinnlos. Bei solchen Dingen wurde ihm wieder bewusst, wie sehr sie ihn geprägt und beeinflusst hatten. Was ihm momentan aber am meisten zu schaffen machte, war, dass er jetzt ständig an Daniel, einen Jungen aus dem Waisenhaus, denken musste. Besonders an dessen Tod. Sarahs in Tränen aufgelöster Zustand hatte diese verdrängte Erinnerung aus Bens Kindheit hervorgebracht. Er wollte nicht an den einzigen Moment erinnert werden, der ihn nicht nur um jemanden trauern, sondern ihn auch das erste und letzte Mal Tränen hatte vergießen lassen. Vielleicht war es schon damals geschehen, und nicht erst seit er in die Hände der Familie geraten war, dass er niemanden mehr an sich heranlassen wollte. Schließlich hatte er sich nach Daniels Tod geschworen, nie wieder so dumm zu sein, für jemand anderen seinen Kopf zu riskieren und sich alle Menschen so fern wie möglich zu halten.
Jetzt war er dabei, diesen Schwur für Sarah mehrfach zu brechen. Er schüttelte den Kopf und zog sich hinter die breite Säule zurück, von der aus er Sarahs ruhiges Dahingleiten auf dem Wasser verfolgte. Ben wollte nicht mehr an den kleinen, schwächlichen Daniel denken, der ihm im Waisenhaus überallhin nachgelaufen war und in ihm seinen großen Bruder gesehen hatte.
Sarah war nicht Daniel.
Es würde nicht noch einmal geschehen!
*
Mit ihrer Sporttasche um die Schultern verließ Sarah die städtische Badeanstalt und war besser gelaunt als sonst. Irgendetwas hatte sich in ihr verändert. Als wäre ein zu fester Knoten endlich gelockert worden. Auf dem langen Fußmarsch von der Badeanstalt zurück in ihre Wohngegend kam sie an einer überfüllten Straßenbahnstation vorbei, die einzig schwierige Stelle auf dem Nachhauseweg, die sie nicht umgehen konnte. Zu abgelenkt mit Gedanken an ihre mögliche nächste Begegnung mit diesem ungewöhnlichen Ben, übersah sie den torkelnden alten Mann, der auf sie zukam. Er stand direkt vor ihr, als sie irritiert zurückzuckte.
»Was wollen Sie ?« , entfuhr es ihr leicht erschrocken. Der Knoten schnürte sich von selbst wieder zu.
»Junge Frau …«, sprach sie der gebrechliche Mann an und stützte sein Gewicht auf einen Stock, »… wären Sie vielleicht so lieb, mir mit dem Gehsteig zu helfen? Seit meiner Hüftoperation kann ich da nur noch mit Hilfe hoch«, nuschelte er beschämt. Der alte Mann war etwas verwahrlost, versuchte aber geschickt, es zu verbergen. Seine Fingernägel waren schon länger nicht geschnitten worden, auch sein Haar war wirr. Nicht schwer zu erraten, dass er gezwungen war, sich um sich selbst zu kümmern und dringend Hilfe brauchte.
Sarah befand sich in einer Zwickmühle. Alles in ihr wollte ihm helfen, aber sie hatte ihre Handschuhe nicht an, also müsste sie ihm die bloße Hand geben, um ihn auf den Gehsteig zu hieven. Der Preis für diese kleine hilfreiche Geste war hoch. Sie wappnete sich innerlich, auch wenn sie wusste, dass es nichts brachte.
Mit zusammengepresstem Kiefer streckte sie ihm widerwillig die Hand entgegen. »Natürlich helfe ich Ihnen .« Das Atmen fiel ihr schwer. Die Angst vor den nächsten Sekunden, dem kurzen Kontakt, schnürte ihr die Kehle zu.
Entschuldigend lächelnd nahm der ältere Herr ihre Hand und verlagerte sein Gewicht. Langsam kam er mit ihrer Hilfe auf den erhöhten Gehsteig. Erleichtert sah er sie an und wandte sich ihr zu, vermutlich, um ihr zu danken. Als er ihr Gesicht sah, blieb ihm scheinbar der Dank auf
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