Kuess mich toedlich
Schuldgefühle, die dadurch nicht verschwunden waren. Ben war nicht in der Lage gewesen, Daniel zu beschützen, als es darauf ankam. All seine Wut hatte er an diesem Monster im Kinderheim ausgelassen. Damals hatte er noch wie ein Kind ausgesehen, aber eigentlich hatte er niemals eine kindlich unschuldige Seele besessen, da war Ben sicher. Dafür hatten sie ihn schließlich in die Anstalt für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche gesteckt. Von da an wurden die Dinge für Ben erst richtig schlimm. Doch er hatte niemals bereut, dieses Stück Dreck zusammengeschlagen zu haben. Dagegen bereute er es immer noch, Daniel nicht gerettet zu haben. Damals hatte Ben sich geschworen, niemals wieder jemanden an sich herankommen zu lassen. Niemals wollte er sich je wieder so fühlen wie in dem Moment, als er Daniels Leiche auf dem Kies im Morgengrauen liegen sah. Er hatte nie eine richtige Kindheit gehabt, aber hätte er eine gehabt, wäre sie in diesem Moment vorbei gewesen.
An all das dachte er unfreiwillig, während er Sarah im Arm wiegte und fester an sich drückte, als ihm bewusst war.
»Du zerquetschst mich fast .« Sie wirkte teilnahmslos und verängstigt, aber wenigstens sprach sie wieder.
»Tut mir leid, ich war nur so erschrocken deinetwegen. Geht’s besser ?« Er sah ihr auf der Suche nach einer Antwort in die dunklen Augen.
»Ja. Ich wollte dich nicht erschrecken. Manchmal bekomme ich von jetzt auf gleich diese Panikattacken. Keine Ahnung, wieso. Ich möchte nicht darüber sprechen«, fügte sie gehetzt hinzu. »Ich möchte vor allem nicht, dass du mich so siehst und für eine Irre hältst .« Die Verzweiflung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Das tue ich nicht«, versicherte ihr Ben und umarmte sie weiter. Diese feste, warme Umarmung brauchte sie sicher ganz dringend, und er konnte sie ihr geben, das ließ ihn Stolz empfinden. »Wirklich nicht. Ich mache mir nur Sorgen. Du musst nicht mit mir darüber reden, wenn du nicht willst .«
Sie umarmte ihn noch fester, als würden ihr seine Worte viel bedeuten. »Wieso gehen wir nicht einfach zu dir und verbringen den Rest der Nacht auf deiner Couch ?« , schlug sie vor.
»Wieso tun wir dasselbe nicht bei dir? Du bist so müde und würdest dich bei dir sicher wohler fühlen als bei mir. Glaub mir .«
Sarah blickte ihn kurz irritiert an, schmiegte sich jedoch gleich wieder an ihn. Er konnte sie nicht mit in seine Wohnung nehmen. Unmöglich.
»Na gut, von mir aus. Ich bin wirklich müde, mein Fuß tut noch etwas weh und ich möchte nur noch heim. Wenn du nichts dagegen hast, ruf ich uns ein Taxi .«
Normalerweise hätte er jetzt den armen Studenten geben müssen, der sich kein Taxi leisten konnte und zu stolz war, sich von seinem Date eines bezahlen zu lassen. Aber heute war ihm das ganze Getue zu anstrengend, und er nickte nur.
*
Zurück in ihrer Wohnung ließen sie sich aufs Bett fallen. In jedem anderen Moment wäre das für Sarah unpassend oder merkwürdig gewesen, doch sie war so erledigt vom Lügen und dem seltsamen Verlauf des Abends, dass sie es geschehen ließ. Wie von selbst zog Ben ihren Körper an sich und hüllte sie mit seinem vollkommen ein. So hatte sie sich noch nie gefühlt, beschützt und umsorgt. Sie stieß noch immer stille Dankgebete aus, dass sie Ben offenbar weiterhin berühren konnte, auch wenn tief in ihr von nun an immer ein Teil befürchten würde, dass es noch mal geschehen könnte. Sie fürchtete sich mit jeder Faser ihres Herzens davor. Es sollte so bleiben wie genau in diesem Augenblick. Bens Wärme sollte ihre ganze Welt ausmachen. Sie brauchte vor nichts Angst zu haben und konnte genau spüren, wie wohl er sich mit ihr fühlte. Aber etwas sagte ihr deutlich, dass es nicht so bleiben würde. Die Anzeichen des heutigen Abends hatten eines klar gemacht, jeder verbarg etwas vor dem anderen, und es würde bald ans Licht kommen. Sarah hoffte nur, dass es nicht ihr Geheimnis war, denn was immer Ben vor ihr geheim hielt und mit diesem armen Jungen Daniel zu tun hatte, konnte nicht annähernd so schlimm sein wie ihre Andersartigkeit.
Sarah schloss die Augen und verbannte die Gedanken aus ihrem Herzen, denn sie wollte in Bens Armen einschlafen und daran glauben, dass es nicht das letzte Mal sein würde, dass sie seine Nähe für sich hatte.
*
Der Geruch nach Pisse und Blut erfüllte den ganzen Raum. Er war dick und widerlich, doch das kümmerte ihn kaum. Sein kleines Handy vibrierte auf einem Hocker. Daneben
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