Küss mich, wenn Du kannst
anscheinend auch tun.
Bodie schickte sie mit einem Taxi, das Heath bezahlte, in die City zurück. Als sie Sherman aus der Parkgarage geholt hatte und nach Hause fuhr, war es nach fünf. Sie betrat das Haus durch die Hintertür und warf ihre Sachen auf den Küchentisch - einen Klapptisch aus Kiefernholz, den Nana in den achtziger Jahren gekauft hatte. Damals war sie ganz versessen aufs ländliche Dekor gewesen. Die alten Möbel erfüllten immer noch ihren Zweck, zum Beispiel die Bauernstühle mit dem verblichenen Matratzenüberzug auf den Sitzkissen. Obwohl Annabelle das Haus schon seit drei Monaten bewohnte, hatte sie immer noch das Gefühl, es gehöre ihrer Großmutter. Bisher hatte sie nur die staubige Weinrebengirlande zusammen mit dem gerüschten, cranberryfarbenen Vorhang vom Küchenfenster entfernt, um den Raum zu modernisieren.
Mit dieser Küche verbanden sich ihre glücklichsten Kindheitserinnerungen. Jeden Sommer war sie für eine Woche hierher gefahren, hatte mit Nana an diesem Tisch gesessen und über alles geredet. Die Großmutter lachte niemals über die Tagträume ihrer Enkelin - nicht einmal, als die achtzehnjährige Annabelle ankündigte, sie wolle Theaterwissenschaft studieren und eine berühmte Schauspielerin werden. Für Nana zählten nur Möglichkeiten. Kein einziges Mal war sie auf den Gedanken gekommen, auch nur anzudeuten, Annabelle sei weder schön noch talentiert genug, um den Broadway zu erobern.
Es läutete an der Vordertür, und Annabelle öffnete sie. Vor ein paar Jahren hatte Nana das Wohnzimmer in die Rezeption und den Speiseraum in das Büro für Marriages by Myrna umgewandelt. So wie ihre Großmutter wohnte Annabelle im oberen Stockwerk. Nach Nanas Tod hatte sie das Büro frisch gestrichen und mit einem Computer und einem funktionelleren Schreibtisch moderner eingerichtet.
In der alten Vordertür war eine ovale Milchglasscheibe eingelassen. Die abgeschrägten Ränder ließen Mr. Bronickis verzerrte Gestalt erkennen. Am liebsten hätte Annabelle vorgegeben, sie wäre nicht daheim. Aber er wohnte auf der anderen Gassenseite. Also musste er beobachtet haben, wie sie in ihrem Sherman angekommen war. Obwohl Wicker Park viele alteingesessene Bewohner wegen der Sanierung verloren hatte, lebten ein paar Unerschütterliche immer noch in den Häusern, wo sie ihre Kinder großgezogen hatten. Andere waren in ein nahes Seniorenheim oder in die billigeren Randgebiete gezogen. Und alle hatten Annabelles Großmutter gekannt.
»Hallo, Mr. Bronicki.«
»Guten Abend, Annabelle.«
Der hagere drahtige Mann hatte graue rautenförmige Augenbrauen mit mephistophelischer Schräglage. Aus seinen Ohren spross das Haar, das auf seinem Kopf fehlte. Aber er kleidete sich sehr adrett. Sogar an den wärmsten Tagen trug er langärmelige karierte Sporthemden und blank polierte Oxfords.
Unter seinen satanischen Brauen starrte er sie an. »Du hättest mich anrufen müssen. Schon drei Nachrichten habe ich hinterlassen.«
»Sie waren der Nächste auf meiner Liste«, log sie. »Tut mir Leid, ich war den ganzen Tag unterwegs.«
»Als ob ich das nicht wüsste! Wie ein kopfloses Huhn treibst du dich herum. Myrna blieb immer daheim. So konnten wir sie jederzeit finden.« Er besaß nicht nur den Akzent eines geborenen Chicagoers, sondern auch die Aggression eines Mannes, der einen Großteil seines Lebens damit verbracht hatte, einen Laster für die Gasfirma zu fahren. Wie ein Bulldozer stürmte er an Annabelle vorbei ins Haus. »Was hast du dir bezüglich meines Problems überlegt?«
»Mr. Bronicki, Sie hatten Ihr Abkommen mit meiner Großmutter getroffen.«
»Mit Marriages by Myrna, ›Senioren sind meine Spezialität‹. Oder hast du den Slogan deiner Granny vergessen?«
Wie sollte sie vergessen, was in vielen Dutzend vergilbter Notizblöcke stand, die Nana im ganzen Haus verstreut hatte? »Diese Firma existiert nicht mehr.«
»Papperlapapp.« Mit einer weit ausholenden Geste wies er in den Empfangsraum, wo Annabelle die Holzgänse, die Seidenblumenarrangements und die zu Beistelltischen umfunktionierten Melkschemel mit Keramik im mediterranen Stil vertauscht hatte. Da sie es sich nicht leisten konnte, die Sessel und Sofas mit den Rüschenbezügen zu ersetzen, hatte sie Kissen in Kirschrot, Kobaltblau und in einem gelben provenzalischen Muster verteilt, die zum neuen dotterblumengelben Anstrich passten. »Wenn du da und dort ein paar Kinkerlitzchen postierst, ändert das gar nichts«, fuhr er fort. »Das ist
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