Küss mich wie damals
weitermachen werden“, erwiderte Frances in bemüht freundlichem Ton, wenngleich sie sich versucht fühlte, Lady Lavinia scharf zurechtzuweisen. „Ich befürchte, ich bin nicht der Ansicht Ihrer Gouvernante. Sie sind überhaupt kein hoffnungsloser Fall, nicht einmal, was das Zeichnen betrifft.“
„Wie wollen Sie das anhand dieses Gekritzels beurteilen?“
„Das lassen Sie meine Sorge sein. Im Übrigen können Sie sich bemühen, etwas zu Papier zu bringen, das nicht nur wie Gekritzel aussieht. Ich werde die Zeit nutzen, um Sie zu skizzieren. Und sitzen Sie bitte still.“
„Warum? Es kommt doch nicht darauf an, dass Sie mich lebensecht treffen. Zeichnen Sie mich so, wie mein Vater mich gern sehen möchte, als sittsames Mädchen, mit adrett gefalteten Händen und züchtig niedergeschlagenen Lidern. Der Auftraggeber bestimmt die Ausführung, und Sie fügen sich doch im Allgemeinen den Wünschen der Leute, nicht wahr?“
Frances war über Lady Lavinias freimütige Äußerungen befremdet und vor allem darüber, dass sie zutrafen. Noch unbehaglicher wurde ihr zumute, als sie plötzlich den Duke of Loscoe sah, der unbemerkt in den Garten gekommen war. Er lehnte an einem Baum, und sie fragte sich, wie lange er schon dort stehen mochte. Rasch klappte sie das Skizzenbuch zu und stand auf. „Genug für heute, Lady Lavinia“, sagte sie leichthin. „Ihr Vater ist gekommen.“
„Oh, meinetwegen müssen Sie nicht aufhören“, rief Marcus ihr zu, straffte sich und ging zu ihr.„Ich kann Ihnen beiden beim Zeichnen zuschauen.“
„Ihre Tochter und ich haben die Zeit genutzt, um uns besser kennenzulernen, und daher nicht viel gearbeitet.“
Er nahm Lavinias Zeichenblock und klappte ihn auf. „Ein sechsjähriges Kind hätte dieses Gekritzel in drei Minuten geschafft.“
Frances lächelte. „Das hat ein sechzehnjähriges Mädchen in einer Minute gemacht.“
„Lavinia …“
„Ach, ich weiß, was du sagen willst“, fiel sie dem Vater ins Wort. „Du wirst mir vorhalten, dass du Ihre Ladyschaft nicht für so etwas bezahlst.“
Frances nahm ihm den Skizzenblock ab. „Ihre Tochter und ich haben heute Nachmittag eine Menge gelernt, auch wenn das nicht auf den ersten Blick erkenntlich ist. Sie hat eine natürliche Begabung, die gefördert werden muss. Wenn Sie sie tadeln, weil sie etwas getan hat, worum ich sie gebeten habe, wird sie nicht ermutigt.“
„Sie haben sie gebeten, dieses Geschmiere anzufertigen?“
„Ich habe sie gebeten, die Pergola zu zeichnen. Und das hat sie getan. Gewiss, die Pergola ist nicht sehr realistisch, aber das kann man mit künstlerischer Freiheit entschuldigen. Auch ich erlaube mir, gelegentlich darauf zurückzugreifen, wenn ich ein bestimmtes Sujet nicht naturgetreu wiedergeben will.“
„Ich habe gehört, was meine Tochter zu Ihnen sagte. Sie war unglaublich frech, und ich entschuldige mich für sie.“
„Das ist nicht nötig, Euer Gnaden. Falls Ihre Tochter meint, sie müsse sich entschuldigen, wird sie das gewiss tun. Vielleicht sollte ich mich bei ihr entschuldigen, weil ich so gönnerhaft war.“
„Unsinn! Wenn Sie sie in ihrer Einstellung bestärken, wird sie sich noch schlimmer aufführen.“
„Das lassen Sie mich beurteilen, Euer Gnaden. Sagen Sie getrost, ob Sie wollen, dass ich den Unterricht fortsetze oder nicht. Falls das nicht Ihr Wunsch sein sollte, werde ich nicht gekränkt sein.“
„Natürlich möchte ich, dass Sie Lavinia weiter unterrichten.“
„Dann erwarte ich Sie, falls Ihnen das recht ist, am nächsten Donnerstag.“
„Ja, das passt.“
Frances sammelte die Zeichenutensilien ein. Der Duke of Loscoe nahm ihr die Skizzenblöcke ab, und dabei berührte seine Finger ihre. Sie hatte das Gefühl, sich verbrannt zu haben, zog hastig die Hand zurück und schaute ihn an. Seine Miene verwirrte sie, weil sie nicht zu beurteilen vermochte, was er ihr durch seinen Blick mitzuteilen versuchte. Der Ausdruck in seinen Augen konnte vorwurfsvoll, mitfühlend und sogar verlangend sein. Wie gebannt sah sie ihn an, nicht fähig, die Lider zu senken. Dieser Moment war nur von kurzer Dauer, kam ihr jedoch wie eine Ewigkeit vor.
„Wenn Sie mir bitte folgen würden“, murmelte sie schließlich etwas gefasster und ging ins Haus voran. Einige Minuten später, nachdem Marcus und seine Tochter sich verabschiedet hatten und sie allein im Salon war, wunderte sie sich über die unvorhergesehene Wirkung, die er auf sie ausübte. Hoffentlich war ihm nicht aufgefallen, wie
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