Küsse im Morgenlicht
war - genau genommen hatte sie das Gefühl, als ob er fast schon Wirklichkeit geworden wäre.
Während sie unter den alten Bäumen hindurch über den Rasen schritten, beugte sie sich leicht zu Arthur hinüber und flüsterte: »Danke.«
Er erwiderte ihr Lächeln, hob aber die Brauen und fragte: »Wofür?«
»Nun, dafür, dass ich eure Tochter bin, und dass ihr mich die ganzen Jahre über so liebevoll umsorgt habt. Schon bald bin ich nicht mehr die eure, sondern Lucs... dann muss er für mich sorgen.«
Amelia schaute wieder nach vorne und dachte nach. Den kleinen Nachsatz hatte sie im Grunde nur deshalb hinzugefügt, um die Wahrheit ein wenig zu mildern. Und gleichzeitig wusste sie, dass diese Tatsache eigentlich durch nichts zu verschleiern war. Auch Arthur - ein Cynster durch und durch - war sich dessen wohl bewusst. Abermals schaute sie zu ihrem Vater auf, doch sein Lächeln war unverändert.
»Ich bin froh, dass du dich für Luc entschieden hast. Natürlich kann es auch in eurer Beziehung Höhen und Tiefen geben, aber im Grunde seines Herzens ist er doch genau jener Typ Mann, der niemals seine Pflichten vernachlässigt… der niemals die Menschen vergisst, für die er zu sorgen hat.« Arthur tätschelte seiner Tochter beruhigend die Hand. »Und das verheißt Gutes.«
Nun standen sie unmittelbar vor der Kirche. Amelia hielt in Gedanken einen Moment inne, atmete noch einmal tief durch und machte sich ein letztes Mal all die Segnungen bewusst, die sie in den letzten Jahren hatte empfangen dürfen. Dann betraten sie und Arthur das uralte Gotteshaus, blieben einen Augenblick stehen - bis Amelia mit dem für sie so typischen heiteren, strahlenden Lächeln den Mittelgang hinaufschritt und an Lucs Seite trat.
Er wartete bereits auf sie. Ihre Blicke begegneten einander. Amelia und Luc schauten sich tief in die Augen. Dann ergriff er ihre Hand, sie rückte noch ein Stückchen näher an ihn heran, und gemeinsam wandten sie sich zum Altar um.
Die Trauungszeremonie wurde geleitet von Mr. Merryweather, der im Übrigen hocherfreut darüber war, noch eine weitere Generation seiner ehemaligen Täuflinge miteinander vermählen zu dürfen. Mit kräftigen und klaren Stimmen sprachen Luc und Amelia ihre Ehegelübde - und dann hatten sie den entscheidenden Schritt tatsächlich hinter sich. Sie waren Mann und Frau.
Amelia streifte ihren Schleier zurück, Luc zog sie an sich, neigte den Kopf zu ihr hinab und küsste sie. Es war ein zarter, doch langer Kuss, und nur die Braut hatte die Kraft spüren können, mit der Luc die Finger um ihre Taille schloss; nur sie hatte die Macht all dessen erahnt, was er eisern vor den anderen Gästen verbarg.
Dann hob er den Kopf. Liebevoll sahen sie einander an. Aufmerksam forschten sie in den Augen des anderen, erkannten trotz ihrer scheinbaren Ruhe und der einstudierten Maske der Gelassenheit die darunter verborgenen Emotionen. Dann, während ihre Gesichter wieder ruhig und vor lauter Glück strahlten, wandten sie sich wieder zu der versammelten Festgemeinde um und nahmen die Glückwünsche ihrer Familien und Freunde entgegen.
Luc hätte nie gedacht, dass seine Ungeduld sich tatsächlich noch einmal in einem derartigen Ausmaß steigern könnte, dass sie jenen Punkt erreichte, wo sie eine geradezu physisch wahrnehmbare Gestalt annahm. Sie war ein wütendes Ungeheuer, das in seinem Inneren tobte, das sich in seine Eingeweide krallte und laut nach Aufmerksamkeit verlangte, nach Befriedigung. Luc hoffte - betete - dass die Tatsache, dass Amelia nun endlich vor Gott und allen Menschen die seine war, ihm genügend Kraft geben würde, um den Tag durchzustehen. Er war sich seiner inneren Anspannung nur allzu eindringlich bewusst, spürte genau, wie seine Nerven sich anspannten, verspannten - wie alles in ihm danach drängte, sein Verlangen zu stillen. Doch statt seinen Instinkten Taten folgen lassen zu können, musste Luc ruhig an Amelias Seite ausharren, während sie gemeinsam die Glückwünsche der um sie versammelten Gäste entgegennahmen, die Amelia mit herzlichen Küsschen alles Gute wünschten und ihm, Luc, die Hand drückten und jovial auf die Schulter schlugen.
Luc hätte in diesen Minuten nichts lieber getan, als Amelia kurzerhand zu packen, sie fest an seine Seite zu drücken, sich irgendwie den Weg zur Kirchentür zu bahnen, auf ein Pferd zu schwingen und dann einfach von alledem hier zu verschwinden. Er wollte sie losreißen von diesem Ort, wollte sie endlich von ihrem alten Zuhause
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