Küssen will gelernt sein: Roman (German Edition)
führte eine alte
Holztreppe zur smaragdgrünen Tür ihres neuen Zuhauses hinauf. Die Wohnung war ziemlich heruntergekommen und hatte dringend neues Linoleum, neue Vorhänge und einen anständigen Herd nötig, der nicht aus der grauen Vorzeit der frühen 70er Jahre stammte. Aber Delaney gefiel sie. Ihr gefielen die Fensterbänke in dem kleinen integrierten Wohn- und Schlafzimmer. Ihr gefielen die alte Badewanne mit den Messingfüßen und das riesige Bogenfenster mit Blick auf die Hauptstraße. Natürlich hatte sie schon in schöneren Wohnungen gelebt, und mit der luxuriösen Ausstattung des Hauses ihrer Mutter konnte das schäbige kleine Apartment nicht mal annähernd mithalten. Doch vielleicht gefiel es ihr gerade deshalb so. Alles darin gehörte ihr. Bis ihr eigenes Geschirr in den Regalen stand, hatte sie gar nicht bemerkt, wie sehr ihre Sachen ihr fehlten. Sie schlief wieder in ihrem eigenen schmiedeeisernen Bett und saß auf ihrem eigenen cremefarbenen Leinensofa mit den Zebrastreifenkissen vor ihrer eigenen Glotze. Der schwarze Couchtisch und die Beistelltischchen gehörten ihr, genau wie der Sockeltisch in der kleinen Essecke im Wohnzimmer hinten links. Das Esszimmer und die Küche waren durch eine halbe Wand abgetrennt, sodass man den Großteil des Apartments auf einmal im Blick hatte. Auch, wenn es nicht viel zu sehen gab.
Delaney packte die Klamotten aus, die sie als Arbeitskleidung für geeignet hielt, und hängte sie in ihren Wandschrank. Sie erstand ein paar Lebensmittel, einen durchsichtigen Duschvorhang aus Plastik mit großen roten Herzen drauf und zwei kleine geflochtene Läufer, um die abgelatschten Stellen auf dem Küchenboden zu kaschieren.
Jetzt brauchte sie nur noch ein Telefon und neue Schlösser.
Drei Tage nach Geschäftseröffnung bekam sie ihr Telefon, aber auf die Schlösser wartete sie immer noch. Auch der Massenansturm der Kunden ließ auf sich warten.
Delaney setzte ihre erste Kundin in den Salonstuhl und wickelte ihr das Handtuch vom Kopf. »Wollen Sie auch ganz bestimmt Fingerwellen, Mrs Van Damme?« Sie hatte seit der Kosmetikschule keine Fingerwellen mehr gelegt. Das war nicht nur vier Jahre her, ein ganzer Kopf mit Fingerwellen war auch echt nervig.
»Ja. So wie immer. Beim letzten Mal war ich in dem Laden um die Ecke«, erklärte sie und meinte »Helens Haarhütte«. »Aber die Friseurin war nicht so besonders. Bei der sah es aus, als hätte ich Würmer auf dem Kopf. Seit Gloria von uns gegangen ist, hatte ich keine anständige Frisur mehr.«
Delaney schälte sich aus ihrer kurzen Vinyljacke und schlüpfte in ihren grünen Kittel. Der Kittel verdeckte ihr erdbeerfarbenes Lycra-Shirt und ihren Vinylrock, ließ aber ihre Knie und die coolen schwarzen Stiefel frei. Wehmütig dachte sie an ihren alten Job bei Valentina in Scottsdale und an ihre Kundinnen, die ein bisschen was von Mode und Trends verstanden. Dann griff sie schicksalsergeben nach ihrem Modellierkamm und fing an, das Haar der alten Dame auszukämmen. Sie hatte im Lager noch etwas Wellmittel aus dem Bestand der Vorbesitzerin gefunden. Normalerweise hätte sie sich nicht darauf eingelassen, Mrs Van Damme zu frisieren, schon gar nicht, nachdem sie den Preis auf zehn Dollar heruntergehandelt hatte. Delaney hatte das intuitive Talent, die Fehler der Natur zu erkennen und mittels Schnitt und Farbe zu beheben. Der richtige Schnitt konnte Nasen kleiner wirken lassen, Augen größer und ein Kinn resoluter.
Aber sie war verzweifelt. Niemand in dem Kaff wollte mehr als zehn Mäuse für irgendwas bezahlen. In den drei Tagen, die sie bisher geöffnet hatte, war Mrs Van Damme die einzige Kundin, die sich nicht nach einem Blick auf die Preise auf dem Absatz umgedreht hatte und hinausgerannt war. Natürlich konnte die Oma hier auch kaum laufen.
»Wenn Sie mir schöne Wellen machen, empfehle ich Sie all meinen Freundinnen weiter, aber die zahlen auch nicht mehr als ich.«
Na super, dachte sie. Ein ganzes Jahr nur geizige alte Damen. Ein ganzes Jahr lang spießige Lockenwickler und Toupieren. »Wollen Sie den Scheitel rechts haben, Mrs Van Damme?«
»Links. Und wenn Sie sowieso schon Ihre Finger in meinen Haaren haben, können Sie mich auch Wanetta nennen.«
»Wie lange tragen Sie Ihr Haar schon so, Wanetta?«
»Ach, an die vierzig Jahre. Seit mein verstorbener Ehemann mir sagte, dass ich wie Mae West aussehe.«
Delaney bezweifelte ernsthaft, dass Wanetta jemals auch nur annähernd so ausgesehen hatte wie Mae West.
Weitere Kostenlose Bücher