Kullmann
Bereiter zu tun. Das Opfer war nämlich bis zu dem Zeitpunkt sein Sponsor gewesen und hat ihm seine Pferde für die Turniere zur Verfügung gestellt. Es ging um einen Verstoß gegen die Bestimmungen der Leistungsprüfungsordnung der Deutschen Reiterlichen Vereinigung. Aber wie es zu der Prügelei kam, weiß ich nicht mehr«, zuckte Erik mit den Schultern.
Anke staunte darüber, wie klein die Welt doch war.
Mit großem Unbehagen stieg sie mit Erik in den Wagen ein, weil die Fahrt unweigerlich zurück zum Landeskriminalamt führte. Bei dem Gedanken, wieder in dieses Gebäude zu müssen, das sie erst vor wenigen Stunden in Angst und Schrecken verlassen hatte, kam ihr erst die dumpfe Vermutung, dass Esche vermutlich doch gestorben war und Robert wegen Mittäterschaft festgenommen worden war. Sie sah sich ihrer unvermeidlichen Verhaftung entgegengehen, weil sie die Täterin war. Natürlich! Nur das konnte es sein! Schlagartig begann Anke zu zittern, Schweiß brach ihr aus. Je mehr sie sich dem Gebäude näherten, in dem sie erst vor einigen Stunden die Hölle erlebt hatte, desto nervöser wurde sie. Vor ihren Augen begann alles zu schwimmen, ihr wurde schwindelig vor Angst. Sie befürchtete schon, den Boden unter den Füßen zu verlieren, als sie die Treppen hinauf zum Büro gingen. Sie glaubte, alles verloren zu haben, verurteilt zu sein, von allen geächtet und ausgestoßen, weil sie ihr vorwerfen würden, sich auf die andere Seite des Gesetzes gestellt zu haben. Sie war als Täterin überführt, hing in den Maschen der Polizei, und alle zeigten mit dem Finger auf sie. Sie hatte keine Wahl mehr, sie musste die ganze Wahrheit sagen. Verzweifelt folgte sie dem wortkargen Erik Tenes, der ihr in dieser düsteren Stunde kein Trost war.
Aber kaum betrat sie das Büro, sah sie Esche munter und fröhlich durch den Flur laufen. Was hatte das schon wieder zu bedeuten? Der lebte noch! Deswegen konnte man sie also nicht vorführen.
Ratlos setzte sie sich in ihr Zimmer und wartete. Man ließ sie zappeln. Lange dauerte es, bis Kullmann endlich zu ihr kam.
»Ist Ihnen auch nichts passiert?«, fragte er in besorgtem Ton. Also hatte er inzwischen von Esches Handgreiflichkeiten erfahren, überlegte sie.
»Ich konnte mich wehren«, antwortete Anke, doch an Kullmanns staunendem Gesichtsausdruck sah sie, dass er etwas ganz anderes meinte.
Er sprach von dem Zwischenfall beim Ausritt.
»Wehren? Was ist dort oben auf dem Hügel geschehen?«, wurde Kullmann hellhörig.
»Das ist genau die Frage, die ich Ihnen stellen muss«, erklärte Anke. »Warum dieses Großaufgebot gegen Robert Spengler?«
Kurze Zeit wirkte Kullmann überrascht, doch dann lenkte er ein: »Leider ist jetzt nicht der richtige Augenblick, mit Ihnen darüber zu reden. Sie sind sehr aufgebracht und unbeherrscht. Am besten holen Sie sich erst einmal eine Mütze Schlaf! Morgen können wir in aller Ruhe darüber reden.«
Anke war fassungslos über die simple Abspeisung von Kullmann. Sie erkannte ihren Chef überhaupt nicht wieder. In ihrer gesamten Dienstzeit mit Kullmann hatte sie so etwas noch nicht erlebt. Immer hatte er ihr mit seinem feinen Gespür das Gefühl von Sicherheit, sogar von Geborgenheit gegeben. Aber nun beschlich sie das Gefühl, dass sie sich entfremdeten, was einen tiefen Schmerz in ihr hinterließ.
»So können Sie mich nicht abfertigen!«, machte sie noch einen verzweifelten Versuch.
Überrascht über den heftigen Ton schaute Kullmann sie an und meinte nur: »Ich speise Sie nicht ab. Sie sind viel zu aufgebracht, jetzt noch sachlich zu bleiben. Also bitte ich Sie nochmals, eine Nacht über diese Ereignisse zu schlafen; morgen werden wir in Ruhe darüber reden!«
Zwischen Wut und Verzweiflung hin und her gerissen verließ Anke das Büro. Es hatte keinen Sinn, auf einer Antwort zu bestehen. Kullmann war stur wie ein Esel.
Sie brachte eine chaotische Nacht hinter sich. An Schlafen war nicht zu denken. Ständig kreisten ihre Gedanken um die Ereignisse von gestern. Anke war an einem Tag von einem Alptraum in den nächsten geraten. Dabei war sie sich nicht mehr sicher, was ihr am meisten zusetzte: Esches Übergriff oder die Entfremdung von Kullmann. Nur dadurch hatte es soweit kommen können, dass Robert in Handschellen abgeführt wurde – vor ihren Augen.
Ohne das Verständnis ihres Chefs fühlte sie sich hilflos und ausgeliefert.
Übernächtigt betrat Anke das Büro und verschwand in ihrem Zimmer, wo sie den Kaffee bereitete.
Kurze Zeit später
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