Kullmann
Robert war so sehr in seine Erinnerungen vertieft, dass ihm diese Geste gar nicht auffiel.
»Ich war schon längst kein Kind mehr, als sie mir endlich die Wahrheit sagte. Aber ich habe es immer im Unterbewusstsein gespürt, dass ich ungeliebt war, egal wie sehr ich mich dagegen wehrte. Dieses unbestimmte Gefühl ist einfach immer da. Gerade deshalb war ich immerzu bestrebt, ja sogar süchtig danach, geliebt zu werden, und habe auch alles getan, um das zu erreichen. Aber je mehr ich mich angestrengt habe, umso unbeliebter wurde ich dadurch. Nichts war richtig, was ich tat. Im Gegenteil, als aufdringlich wurde ich angesehen oder sogar als ungehorsam. Niemals habe ich von meiner Mutter ein tröstendes Wort gehört, niemals hat sie mich in den Arm genommen, niemals gab sie mir die Wärme, die man von einer Mutter erwartet. Als ich älter wurde, gab ich die Hoffnung auf, dass meine Mutter ihre Haltung mir gegenüber noch ändern würde. So kam es, dass ich mich von der Familie trennte und mein eigenes Leben lebte.«
Kullmann und Klose verharrten in Schweigen. Diese Rede hatte beide nachdenklich gestimmt.
»Leider habe ich erst durch den Abstand zu meiner Familie erkannt, was dort wirklich los war. Meine Mutter war ebenfalls ein Opfer und hatte genauso wie ich unter meinem Vater zu leiden. Ich mache mir heute Vorwürfe, mit meinem Rückzug meiner Mutter vielleicht mehr wehgetan zu haben, als sie jemals vor mir zugab. Im Laufe der Jahre hatte sie gelernt, im Stillen zu leiden, weil sie niemanden hatte, zu dem sie gehen konnte!«
Diese Worte trafen Kullmann. Am schmerzhaftesten war die Erkenntnis, wie wenig er wirklich von Luise Spengler gewusst hatte, seit sie in die Ehe mit Kurt Spengler eingewilligt hatte. Unwillkürlich kam in ihm die Frage auf, ob er etwas für Luise hätte tun können. Wäre dieser Tod vermeidbar gewesen? Er wusste es nicht und musste aufpassen, sich nicht noch tiefer in sein Gefühlschaos hineinziehen zu lassen, weil er sonst tatsächlich den Überblick verlieren würde.
Zusammen mit dem Anwalt ging Kullmann in sein Büro, um mit ihm alleine sprechen zu können. Außerdem musste er zuerst seine Eindrücke ordnen. Robert Spenglers Mord an seiner eigenen Mutter war der Kopf der Zusammenhänge, die Esche zu entdecken geglaubt hatte. Wenn dieses Motiv entfällt, bricht seine Theorie zusammen, überlegte Kullmann mit dem zaghaft aufkommenden Gefühl der Erleichterung.
Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, fragte er: »Hatte Luise Angaben darüber gemacht, warum sie sich scheiden lassen wollte?«
»Nein! Sie hatte mir nur von ihrer Absicht berichtet, ihr Elternhaus zu verkaufen und in das Haus ihrer Schwester Katharina Gersten zu ziehen, die ja kurz zuvor verstorben war«, antwortete Klose und zündete sich ohne zu fragen eine Zigarette an.
Kullmann räusperte sich unvermittelt und zeigte auf die Zigarette, eine Geste, die der Anwalt sofort verstand. Schnell drückte er sie wieder aus.
»Warum wollte sie ihr Elternhaus verkaufen?«, staunte Kullmann.
»Sie erklärte mir, dass es für sie allein viel zu groß sei; sie hatte schon einen Immobilienmakler bestellt. Aber zu Verkaufsgesprächen ist es nicht mehr gekommen.«
»Soweit ich informiert bin, hatte sie das Haus ihrer Schwester überhaupt nicht geerbt«, bemerkte Kullmann.
»Das ist ja das Bemerkenswerte! Sie hatte nicht gewusst, dass Katharina alles ihrem einzigen Neffen, Luises Sohn, vermacht hatte. Als sie mir von ihrer Absicht erzählte, in dieses Haus zu ziehen, musste ich ihr das sagen, und das hat sie sehr hart getroffen«, antwortete der Anwalt.
»Wie hat sie darauf reagiert?«
»Sie hatte beschlossen, das Testament anzufechten.«
»Hatte sie denn eine Chance, etwas zu erreichen?«, staunte Kullmann.
»Oh ja! Luise hätte sich einen Pflichtanteil rechtlich erkämpfen können, was durchaus dem Wert dieses Hauses entsprochen hätte.«
»Das hätte für Robert bedeutet, dass er das Erbe nicht allein hätte antreten können?«, hakte Kullmann nach, was der Anwalt bejahte.
»Wie reagierte Robert darauf?«
»Darüber habe ich nicht mehr mit ihm sprechen müssen, weil Luise zum Zeitpunkt ihres Termins bei mir, an dem sie alle diese Angelegenheiten mit mir besprechen wollte, bereits verstorben war.«
Das änderte schon wieder alles, stellte Kullmann ernüchtert fest. Mit dieser Aussage brachte der Anwalt Kullmanns neue Theorie völlig durcheinander.
»Dazu werde ich Herrn Spengler befragen müssen«, stellte Kullmann fest
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