Kultur 04: Ein Geschenk der Kultur
Briefbeschwerer von dem Granittisch und
drehte ihn in der Hand in alle Richtungen um. Die Musik flimmerte
durch den Raum, wie Sonnenstrahlen auf Wasser glitzern; Punkte
ergaben Linien, die leise tanzten. »Ich weiß«, sagte
er, während er noch immer die schwere Kugel aus gedrehtem Glas
betrachtete, »das muß Ihnen wie eine verrückte Idee
erscheinen, aber ich… ich bin einfach gierig nach diesem
Ort.« Er sah mich an, und zwar zum ersten Mal – so kam es
mir vor – ohne herausfordernde Grimasse oder starrer
Gleichgültigkeit.
»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte ich. »Aber
ich kann es nicht vollkommen verstehen… Vielleicht bin ich
argwöhnischer als Sie; es hat irgendwie den Anschein, als
kümmerten Sie sich manchmal mehr um die Belange anderer Leute
als um Ihre eigenen… Sie unterstellen ihnen, sie hätten die
Dinge nicht so gründlich durchdacht wie Sie selbst.« Ich
seufzte und hätte beinahe gelacht. »Vermutlich unterstelle
ich…, hoffe ich, daß Sie Ihre Meinung noch ändern
werden.«
Linter schwieg ein Weile und betrachtete weiterhin die Halbkugel
aus farbigem Glas. »Vielleicht werde ich das.« Er zuckte
heftig die Achseln. »Vielleicht werde ich das«, wiederholte
er und musterte mich forschend. Er hustete. »Hat das Schiff
Ihnen erzählt, daß ich in Indien war?«
»In Indien? Nein, das hat es mir nicht
erzählt.«
»Ich reiste für einige Wochen dorthin. Ich hatte die Willkür von meiner Absicht nicht unterrichtet, aber
natürlich fand sie es heraus.«
»Warum? Ich meine, was wollten Sie dort?«
»Ich wollte das Land sehen«, sagte Linter; er rutschte
auf seinem Sessel nach vorn, rieb den Briefbeschwerer, stellte ihn
wieder auf den Granittisch und rieb sich die Hände. »Es war
schön…, sehr schön. Wenn ich noch die geringsten
Bedenken hatte, dann sind sie dort verschwunden.« Er sah mich
an; sein Gesicht war mit einemmal offen, eindringlich, die Hände
hielt er mit gespreizten Fingern ausgestreckt. »Es sind die
Gegensätze, die…« Er wandte den Blick ab, offenbar um
Worte verlegen, die seinen lebhaften Eindrücken gerecht
würden. »Die Glanzlichter, Licht und Schatten des Ganzen.
Das Elend und der Schmutz, die Krüppel und die aufgeblähten
Bäuche; die ganze Armut läßt die Schönheit
strahlen… Ein einziges hübsches Mädchen im Getriebe
von Kalkutta wirkt wie eine unglaublich zarte Blüte, wie
ein… Ich meine, es ist unvorstellbar, daß der Dreck und
die Not sie nicht irgendwie vergiftet hat… Es ist wie ein
Wunder…, eine Erleuchtung. Dann wird einem bewußt,
daß sie nur ein paar Jahre lang so sein wird, daß sie nur
wenige Jahrzehnte lang leben wird, daß sie verbraucht und
verwelkt sein und sechs Kinder geboren haben wird… Dieses
Gefühl, die Erkenntnis, das Straucheln…« Seine Stimme
verebbte, und er sah mich einigermaßen hilflos, fast
verletzlich an. Das war der Moment, in dem ich meine
aussagekräftigste, inhaltsschwerste Bemerkung hätte machen
sollen. Aber es war auch der Moment, in dem ich genau das nicht tun
konnte.
Also saß ich da und sagte immer noch nichts, und Linter fuhr
fort: »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Es
lebt. Ich lebe. Wenn ich tatsächlich morgen sterben sollte, dann
waren allein diese letzten paar Monate die Sache wert. Ich
weiß, daß ich durch mein Bleiben ein Risiko eingehe, aber
eben das ist das Wesentliche. Ich weiß, daß ich
mich womöglich einsam und ängstlich fühle. Ich rechne
damit, daß es gelegentlich so kommen wird, aber es lohnt sich.
Die anderen Dinge entschädigen für die Einsamkeit. Wir
erwarten, daß alles genauso eingerichtet ist, wie wir es gern
hätten, diese Leute hier tun das jedoch nicht; sie sind daran
gewöhnt, daß sie sich mit einer Mischung aus Gutem und
Schlechtem abfinden müssen. Und das beschert ihnen ein Interesse
am Leben, deshalb schätzen sie Gelegenheiten… Diese Leute
wissen, was eine Tragödie ist, Sma. Sie durchleben sie. Wir sind
nur das Publikum.«
Er saß da und wich meinem Blick aus, während ich ihn
anstarrte. Der Großstadtlärm dröhnte hinter den
Fenstern, Sonnenstrahlen drangen in den Raum und vergingen, wenn
Wolken über uns hinwegzogen, und ich dachte: du armes Schwein,
du bedauernswerter Tölpel, dich hat es erwischt.
Da sind wir nun mit unserem sagenhaften AKE, unserer
überlegenen Maschine; wir sind in der Lage, ihre gesamte
Zivilisation auszulöschen und in einer Tagesreise Proxima
Centauri zu erreichen; vollgepackt mit Technologie, verglichen mit
der ihre
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