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Kultur 04: Ein Geschenk der Kultur

Kultur 04: Ein Geschenk der Kultur

Titel: Kultur 04: Ein Geschenk der Kultur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iain Banks
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die
meisten Städte –, und diese Gegebenheiten in Verbindung mit
der Tatsache, daß die Leute immer noch zu Zehntausenden jedes
Jahr die Stadt verließen (trotz aller möglichen
Zuschüsse und Steuervergünstigungen, die sie zum Bleiben
anhalten sollten), bedeutete, daß bei derselben starken
kapitalistischen Präsenz, die ich in London am eigenen Leibe
erfahren und die ich in Paris gespürt hatte, die Bebauungsdichte
wesentlich geringer war; es bestand einfach nicht derselbe Druck,
Grund und Boden zu erschließen und noch mal zu
erschließen. Deshalb war die Stadt also voll von zerschossenen
Gebäuden und ausgedehnten freien Plätzen, zerbombten
Grundstücken mit schroffen Ruinen, die sich gegen den Himmel
abhoben, mit scheibenlosen Fenstern und ohne Dächer wie riesige
verlassene Schiffe, die auf einem Meer aus Unkraut dahintrieben.
Neben der Eleganz des Kurfürstendamms wurde dieses
Vermächtnis der Zerstörung und Not zu einem weiteren
ausgedehnten Kunstwerk, wie der wundersam verstreute Steinhaufen der
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, der am Ende des Ku-Damms
aufragte wie ein Narrenturm am Ende einer Reihe von
Alleebäumen.
    Selbst die beiden Bahn-Systeme trugen zu der Anmutung von
Unwirklichkeit bei, die von der Stadt ausging, diesem Empfinden,
andauernd von einem Kontinuum in ein anderes überzuwechseln.
Anstatt daß der Westen alle Einrichtungen auf seiner Seite und
der Osten alle auf seiner betrieben hätte, war der Osten
für die S-Bahn (überirdisch) auf beiden Seiten
zuständig und der Westen für die U-Bahn (unterirdisch) auf
beiden Seiten, unterhielt die U-Bahn jene gespenstischen Stationen
unter dem Osten, hatte die S-Bahn ihre eigenen baufälligen,
unkrautüberwucherten Haltestellen im Westen. Beide scherten sich
nicht um die Mauer, absolut nicht, denn die S-Bahn fuhr oben
drüber. Stellenweise verlief die S-Bahn unterirdisch. Und die
U-Bahn tauchte häufig an die Oberfläche auf. Lassen Sie
mich die Sache so weit treiben, daß ich behaupte, selbst die
Doppeldecker-Busse und die Doppeldecker-Bahnen trugen zu dem
Gefühl einer vielschichtigen Realität bei. An einem Ort wie
Berlin war das Verpacken des Reichstags nach Art eines Pakets bei
weitem kein so sonderbarer Gedanke, wie es die Stadt selbst war.
    Ich ging einmal über die Haltestelle Friedrichstraße
und einmal durch den Checkpoint Charlie in den Osten. Sicher, es gab
auch dort Orte, wo die Zeit stillzustehen schien, und viele der
Bauwerke und Schilder sahen aus, als ob eine Patina aus Staub vor
dreißig Jahren angefangen hätte, sich auf ihnen zu sammeln
und seither ungestört dort ruhte. Es gab Geschäfte im
Osten, in denen man nur mit ausländischen Währungen
einkaufen konnte. Irgendwie sahen sie nicht wie richtige
Geschäfte aus; es war, als ob ein schäbiger Unternehmer aus
einer degenerierten halbsozialistischen Zukunft versucht hätte,
ein Mittelding zwischen einem Messe- und Rummelplatz nach dem Modell
eines kapitalistischen Ladens des späten zwanzigsten
Jahrhunderts zu schaffen, was ihm aufgrund seines Mangels an
Phantasie nicht gelungen war.
    Es war nicht überzeugend. Ich war nicht überzeugt. Ich
war außerdem einigermaßen erschüttert. War diese
Farce, dieser klägliche Abklatsch des Stils des Westen –
und als solcher alles andere als gelungen – das
Äußerste, was die Eingeborenen dieses Planeten durch den
Sozialismus erreichen konnten? Vielleicht stimmte mit ihnen etwas so
Grundsätzliches nicht, daß es sogar dem Schiff bis jetzt
noch nicht aufgefallen war; vielleicht hatten sie irgendeinen
genetischen Makel, durch den es ihnen für alle Zeiten versagt
war, ohne eine Bedrohung von außen zu existieren und zu
arbeiten; vielleicht konnten sie niemals aufhören zu
kämpfen, niemals aufhören, ihren schrecklichen,
furchterregenden, blutrünstigen Unsinn zu veranstalten.
Vielleicht gab es trotz aller uns zur Verfügung stehenden Mittel
nichts, das wir für sie tun konnten.
    Das Gefühl ging vorüber. Nichts diente als Beweis
dafür, daß es sich hierbei nicht um eine
vorübergehende und – in diesem frühen Stadium –
verständliche Verirrung handelte. Ihre Geschichte war nicht
allzuweit von der Mittelspur abgewichen, sie machten etwas durch, was
tausend andere Zivilisationen ebenfalls durchgemacht hatten, und
zweifellos hatte es während der Kindertage all dieser
Zivilisationen Gelegenheiten gegeben, bei denen jeder
anständige, ausgeglichene, vernünftige und um die
Menschlichkeit besorgte Beobachter nur noch aus

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