Kurbjuweit, Dirk
die angeblich in Briefen versendet wurden. Es war ein Horror, sie
dachte, die Welt würde nun immer so sein, aber dann war bald alles wieder
normal, und in Wahrheit hatten die Anschläge ihr Leben kein bisschen verändert.
In Greifswald passierte nichts. In Afghanistan waren deutsche Soldaten, aber
denen passierte auch nichts. Und doch gab es offenbar Leute, die Angst hatten,
Angst vor Terroristen, die Laster mit Gefahrengut in die Luft sprengen.
Wahrscheinlich hatte der Fernfahrer eine Nacht lang eine ähnliche Angst gehabt
wie sie vorhin vor dem bösen Abzocker. Sie verlor den Gedanken bald wieder,
weil sie Durst hatte und rauswollte aus diesem Souk, aber nicht wusste, wo ein
Ausgang war. Sie rief Thilo an. Er sagte sofort, dass es unmöglich sei, mit
Warner Brothers Deutschland einen Film über die Riefenstahl zu machen. Er wolle
jetzt nach marokkanischem Geld suchen, ein Prinz aus der Königsfamilie sei
Cineast, und ein Marokkaner habe sicherlich nichts dagegen, einen Film über ein
Hitler-Liebchen zu machen. «Und einen versoffenen Landpfarrer ...»
«Ich will
hier raus», unterbrach sie ihn.
«Sag mir,
wo du bist», sagte er, «dann hole ich dich.»
Aber sie
wusste nicht, wo sie war und legte wütend auf. Er rief sie an und fragte, ob er
die Polizei informieren solle.
«Nein»,
schrie sie, «ich schaffe das schon.»
Die Gassen
wurden wieder enger, eine sah aus wie die andere, und Straßenschilder gab es
nicht, weshalb ihr der Stadtplan, den ihr der Concierge in die Hand gedrückt
hatte, nicht half. Sie sah auch nichts von der Stadt ringsum, weil die Häuser
im Souk so gedrängt standen. Es gab wenig Himmel. Es war heiß, sie musste
unbedingt etwas trinken. Sie sah sich um, ob der Marokkaner wieder aufgetaucht
war, aber sie sah niemanden. Das Zeug zum Terroristen hatte er allemal. Wenn
sie an Kindern vorbeiging, schauten die sie fragend oder amüsiert an. Sie fand
einen Laden, in dem sie eine Flasche Mineralwasser kaufte. Nachdem sie vier
Stunden lang herumgeirrt war, landete sie an einem Ausgang, leider am anderen
Ende der Stadt. Auf dieser Seite begann die Wüste. Sie war zu stolz, Thilo noch
einmal anzurufen. Sie musste ganz um den Souk herumlaufen und nahm das jetzt
als Herausforderung an. Die Sonne ging unter, in der Ferne sah sie die
schneebedeckten Hügel des Atlas. Die Muezzins riefen. Nach anderthalb Stunden
erreichte sie das Hotel. Sie grüßte einen der unbekannten Schauspieler in der
Lobby mit einem kurzen Winken, ging auf das Zimmer und fiel in einen tiefen
Schlaf.
Am
nächsten Morgen fuhren sie mit einem Leihwagen früh die Straße nach Oukaimeden
hinauf. «Du interessierst dich nur für dich», sagte sie nach einer Weile, und
in ihrer Stimme hörte sie die Stimmen von Millionen Frauen klingen, die diesen
Satz schon gesagt hatten, aber sie musste ihn sagen, weil sie sich so ärgerte.
«Warum?»
«Dir war
egal, was mit mir im Souk war. Du hast nur an deine Filme gedacht.»
«Ich
interessiere mich für dich.»
«Ah.»
«Ich
interessiere mich für das, was du sein könntest.»
«Interessier
dich doch für das, was ich bin.»
«Ich weiß
nicht, was du bist.»
«Weißt du
doch.»
«Du
erzählst ja nichts.»
«Ich
erzähle was.»
«Nicht
viel, nichts Wichtiges.»
«Ich kann
dir nichts Wichtiges erzählen, solange du das mit deiner Frau teilst.»
«Ich teile
das nicht mit meiner Frau.»
«Du teilst
dein Leben mit deiner Frau.»
«Aber ich
liebe dich.»
«Stimmt
das?»
«Ich liebe
die Ahnung, die ich von dir habe.»
Sie sah
den Berg hinunter, das rote Marrakesch, dahinter das Meer. Vor ihnen kroch ein
Bus die Serpentinen hinauf, hinter ihnen klebte eine lange Autoschlange. Sie
sah Schneeflecken auf den Wiesen.
«Sei meine
Ahnung von dir», sagte er.
«Und was
ist deine Ahnung?»
«Dass ich
sein will wie du, wenn ich erst einmal alles von dir weiß.»
«Du kannst
nicht sein wie ich.»
«Aber wenn
ich dich habe, dann muss ich es nicht mehr sein, dann ist es immer bei mir.»
«Verlass
deine Frau, dann werde ich deine Ahnung.»
«Ich kann
meine Frau nicht für eine Ahnung verlassen.»
«Ich kann
nicht deine Ahnung sein für die bloße Hoffnung, dass du deine Frau verlässt.»
Sie
schwiegen bis Oukaimeden. Es lag nicht mehr viel Schnee, aber sie liehen sich
Skier und probierten es. Ein paar Schwünge konnte man machen, und sie war glücklich,
dass sie beim Skifahren in Afrika das Mittelmeer sah. Schneekristalle flirrten
in der Luft. Sie gewann jedes Rennen gegen Thilo.
Am
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