Kurbjuweit, Dirk
verzweifelter. Sie hatte Titel und Autor auf den
Lippen, schwieg aber, obwohl ihr eine Stimme sagte, dass sie es sagen solle. Er
brachte sie nach Hause, kam aber nicht mit hoch. Als er weg war, hatte sie eine
wahnsinnige Angst, dass er sie verlassen könne. Wenige Tage darauf rief er an
und lud sie für den kommenden Abend zu einer Party bei sich zu Hause ein,
kleiner Kreis.
Vom
nächsten Tag konnte sie später jede Minute erinnern, und selbst Jahre danach
in Afghanistan fiel ihr manchmal die eine oder andere Begebenheit ein, obwohl
sie keine eigene Bedeutung hatte. Sie schlief bis mittags, weil sie bis fünf
Uhr morgens in der Cincinnatus Bar gearbeitet hatte. Als sie aufwachte, war es
düster, Regenwetter. Sie lag noch eine Weile da und überlegte, was sie bis zum
Abend machen würde. Auf jeden Fall wollte sie zum Friseur gehen. Die
Fingernägel waren auch dran, die Fußnägel sowieso. Sie stand auf, kochte einen
Kaffee. Sie ging die drei Stockwerke hinunter, um ihre Post und die Zeitung zu
holen, das Abo war ein Geschenk ihrer Mutter. Zurück in der Wohnung, machte
sie sich einen Toast mit Marmelade und aß an dem kleinen Tisch, der mit zwei
Stühlen im Wohnzimmer stand. Sie trank langsam ihren Kaffee und las die
Zeitung. Die beiden Briefe in den grauen Umschlägen ließ sie ungeöffnet liegen.
Sie ging
Laufen, siebzig Minuten, zügig, viel Straße dabei, es gab hier leider keine
zusammenhängende Waldstrecke. Sofort danach duschte sie, weil sie sich verschwitzt
nicht mochte. Sie setzte sich auf den Rand der Badewanne, um ihre Beine und den
Schritt zu rasieren. Die Achselhöhlen rasierte sie vor dem Spiegel. Ihre Mutter
rief an und erzählte von ein paar seltenen Fischen, die angeliefert worden
waren. Das Gespräch dauerte knapp vierzig Minuten. Wenn ihre Mutter im
Meeresmuseum war, klang sie zufrieden, manchmal glücklich. Es ging aufwärts,
man steckte eine Menge Geld in das Museum, weil es Touristen anlocken sollte.
Esther fragte nicht nach den Swimmingpools, sie hatte Angst, ihre Mutter würde
sagen, dass es keine Bestellungen gab. Sie musste das Gespräch schließlich
abbrechen, weil sie sonst ihren Termin beim Friseur verpasst hätte. In der
«Gala» suchte sie nach einem Artikel über einen der Schauspieler, die Thilo ihr
vorgestellt hatte, fand aber nichts. Stattdessen las sie etwas über die Frau
von Gerhard Schröder. Der Friseur erzählte, dass seine Mutter an Krebs erkrankt
sei. Zwischendurch traf eine SMS von Thilo ein.
«Esthereuphorie.»
Sie
lächelte. Als sie den Friseurladen verließ, regnete es. Zu Hause bemalte sie
erst ihre Fingernägel, dann die Fußnägel. Sie zog enge Jeans an und ein kurzes
schwarzes Top, darüber einen grauen Pulli, mittelhohe Schuhe, einen Gürtel mit
Totenkopf, zwei gelbe Klunker in den Augenhöhlen. Sorgfältiges Schminken, wenig
Farbe. Gegen neunzehn Uhr brach sie auf, ging zum Bahnhof Yorckstraße und nahm
von dort die Si Richtung Wannsee. Sie fand einen Sitzplatz und las in einem
Roman, den sie für die Fahrt mitgenommen hatte. Aber sie konnte sich nicht
konzentrieren, weil im Bahnhof Schöneberg ein ausgemergelter Mann zustieg und
mit brüchiger Drogenstimme eine Obdachlosenzeitung anpries. Sie kaufte eine
und ließ sich kein Rückgeld geben. Im Bahnhof Botanischer Garten sprangen in
letzter Sekunde vier Halbwüchsige herein, wahrscheinlich Zigeuner, die aber
Italiener spielten und grässlich trompeteten. Sie schaute aus dem Fenster.
Beim Halt im Bahnhof Lichterfelde West sah sie auf dem Nachbargleis eine rote
Diesellok heranfahren, stoppen, zurückfahren. Aber da war niemand im
Führerstand. Mit leichtem Horror sah sie der Lok zu, bis sie einen Bahnarbeiter
mit einer Fernsteuerung erblickte. Sie war beruhigt. Als ihr der kleinste der
Zigeuner einen Hut hinhielt, ignorierte sie das. Der Junge grinste sie frech
an und sagte etwas in einer ihr unbekannten Sprache. Zwischen Sundgauer Straße
und Zehlendorf wurden die Fahrkarten von bulligen Männern kontrolliert, sie
zeigte ihren Monatsausweis und legte das Buch zurück in die Handtasche. Bis
Wannsee sah sie aus dem Fenster. Es war düster, regnete aber nicht.
Sie nahm
die Fähre nach Kladow, ein kleines weißes Schiff, darauf nur sie und zwei
Frauen mit Fahrrädern. Sie setzte sich erst auf das Dach, aber es war zu kühl,
sie ging wieder nach unten und suchte sich einen Platz vorne an der Scheibe.
Ein paar Segelboote, ein Motorboot mit Lebensrettern. Sie las wieder und
schickte eine Viertelstunde vor Ankunft
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