Kurbjuweit, Dirk
hinter einen Baum, der Renault rauschte
vorbei. Sie verließ die Straße, lief in den Wald. Sie spürte jetzt wieder, dass
sie pinkeln musste, und hockte sich hin. Sie irrte durch den Wald, bis sie
einen Pfad fand, der am Wasser entlangführte. Sie rannte immer noch. Dann
versteckte sie sich in der Nähe des Anlegers, bis das Schiff kam. Thilo tauchte
nicht mehr auf.
Esther
ging nicht nach Hause, sondern nahm sich wieder ein Zimmer in der Pension, wo
die Arbeiter wohnten. Das war ein Fehler. Sie heulte jeden Tag, wenn sie auf
die verblassten Tapeten starrte. In einem knappen Jahr war ihr Leben keinen
Schritt vorangekommen. Thilos Anrufe ignorierte sie.
Sie bekam
einen Termin bei der Bundeswehr, und dann saß sie in einem Büro mit Postern von
glücklichen Soldaten, einem Gummibaum und Möbeln aus der DDR, jedenfalls sahen
sie so aus. An der Wand lehnte ein mattschwarzes Rennrad, das wahrscheinlich
teurer war als die Einrichtung dieses Zimmers und aller anderen auf dem Flur.
Hinter dem Schreibtisch saß ein hagerer Mann, an dem alles überlang war,
Gesicht, Arme, Finger, nur die Haare nicht, die waren kurz. Er war zu alt für
diese Art, hager zu sein, Ende fünfzig, schätzte sie aufgrund seiner Falten und
des trüben Blicks. «Informatik haben Sie studiert?», sagte er.
«Ja, aber
ich könnte auch was anderes machen.»
«Was
stellen Sie sich vor?»
«Kämpfen.»
«Infanterie?»
«Ja.»
«Schwierig
für Frauen.»
«Warum
schwierig?»
«Man muss
sehr fit sein.»
«Ich bin
sehr fit.»
«Muskeln,
man braucht Muskeln.» Er schlug ihr vor, Fernmelder zu werden, das sei eine
gute Sache.
«Kommt man
da auch nach Afghanistan?», fragte sie.
«Natürlich,
gerade Fernmelder kommen nach Afghanistan.»
«Gut,
Fernmelder», sagte sie.
Sie hatte
noch drei Wochen bis zum Dienstantritt, sie kündigte das Zimmer in der Pension,
flog nach Sardinien und legte sich an den Strand. Schlafen, schwimmen, lesen.
Manchmal wachte sie auf aus diffusen Träumen und dachte, dass sie ewig hier
bleiben würde. Die Sonne war um den Sonnenschirm herumgewandert, ihre Beine
brannten. Sie wusste nicht, ob das dann schon Fahnenflucht wäre, ob man sie
suchen und bestrafen würde. Sie hatte Angst vor dem Leben, das vor ihr lag.
Warum hatte sie das getan? Wegen Thilo? Wegen Thilo und Jasper? Das waren ihre
beiden Versuche gewesen, ein Leben für sich zu finden, aber sie landete jeweils
in den Leben von anderen, die sie aufgenommen hatten, wie man ein schönes
Möbelstück aufnimmt, freudig, begeistert, und dann stellt man es auf den Platz,
der frei ist, der dafür vorgesehen ist. Niemand hatte sein Leben für sie
geändert.
Sie ging
schwimmen, schwamm weit hinaus, bis der Rettungsschwimmer durch sein Megaphon
schrie. Sie schwamm weiter. Sport, das konnte sie. Deshalb war die Bundeswehr
richtig. Und es war ein Leben, ein sehr deutliches Leben, Uniform, Kaserne,
Dienstordnung. Sie würde nicht mehr so leicht in andere Leben hineinpassen. War
es das? Ihre Burg? Sie machte kehrt. Ein Mann kam ihr heftig kraulend entgegen,
wahrscheinlich der Rettungsschwimmer. Er saß jedenfalls nicht mehr auf seinem
Turm und schaute in geheimnisvolle Weiten, so ganz Sonnenbrille. Als er bei ihr
war, redete er atemlos und zornig auf sie ein, sie verstand ihn nicht. Nebeneinander
schwammen sie zurück. Er redete weiter, netter, weicher. Keine Chance, mein
Lieber, dachte sie, eine Soldatin kriegst du nicht. Zurück am Strand malte er
seine Handynummer neben ihren Sonnenschirm in den Sand. Als der abendliche Wind
aufkam, sah sie zu, wie die Zahlen langsam zurieselten.
Ein paar
Tage später zog ein italienisches Kriegsschiff in einiger Ferne am Strand
vorbei, Kanonen, Radar, grauestes Grau, Nato. Ein Klotz Ernsthaftigkeit in
dieser Spaßtrilogie aus Sonne, Meer und Strand. Hallo, Jungs, dachte Esther.
Dann, schüchtern: Hallo, Kameraden. Seltsames Wort. Ihr Vater würde es hassen.
Noch hatte sie ihren Eltern nichts erzählt.
Ihre
Grundausbildung erinnerte sie später als eine Zeit innerer Erstarrung. Sie
blieb auch am Wochenende in der Kaserne, weil es zu weit war nach Rügen, aber
ohnehin wäre sie wohl nicht gefahren, weil nun ihr eigenes Leben begonnen
hatte. So sah sie das. Es gab nichts, was ihr Probleme bereitete, weder die
Ordnung noch die Disziplin und schon gar nicht die körperliche Anstrengung.
Sie bewältigte mühelos die Märsche und Nachtmärsche, warf sich in den Schlamm,
rappelte sich auf und rannte weiter, kletterte über Hindernisse, ob mit
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